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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Mädchen zieht die Nase hoch. Ihre Zunge drückt von Innen gegen die Wange, als versuche sie etwas zwischen den Zähnen herauszufischen.
    »Why would he say goodbye?«, fragt meine Mutter noch mal. Und, als ihr wieder niemand antwortet, »where did he go?«
    Die Augenwinkel des alten Mädchens biegen sich unter ihren Fingern nach unten, während sie wieder an sich herumreibt. Ein wenig sieht sie aus wie ein weinender Clown.
    Meine Mutter schaut von ihr zu Romão, dann zu Dimas Bruder, der aus dem Wohnzimmer kommt, eine Jogginghose auf den Hüften, die ihm gerade bis zur Mitte des Unterschenkels reicht.
    »When is he coming back?«, stößt sie mühsam hervor.
    »Maybe«, antwortet Romão, der das »when« offenbar nicht gehört hat. Oder vielleicht will er meiner Mutter auch nur einen Gedankenschritt ersparen.
    Ihre Knie geben nach. »Aber er muss doch arbeiten!«, sagt sie, während sie verzweifelt versucht, das Gleichgewicht zu halten, so verwirrt, dass sie nicht mal merkt, dass sie Deutsch spricht. Und erst recht nicht, dass Romão sie versteht.
    »No more work«, sagt er leise.
    Meine Mutter beginnt zu schwanken. »Did Schnuckiputzi fire him because of what happened the other day?«
    Romão schüttelt den Kopf. »Wasn’t fired«, sagt er, »he quit.«
    Die Finger meiner Mutter rutschen vom Türrahmen. »Why?«
    Romão zuckt die Schultern. »I’m sorry«, sagt er wieder und legt den Kopf schräg. Nuschelt etwas, was sie wohl trösten soll. Aber meine Mutter hört ihn schon nicht mehr, starrt nur zu Dimas Bruder, auf die winzigen Augen, die aufeinander zu treiben, sich miteinander verbinden, bis es nur noch ein Auge ist. Sie sieht das fleischfarbene Männerunterhemd, das ebenfalls zu kurz ist, dann wieder die Hose, merkt endlich, dass es dieselbe, nicht die gleiche, wirkliche dieselbe glänzende Jogginghose ist, die Alex damals angehabt hat, nur dass sie bei Dimas Bruder so spannt, dass seine Pobacken darin wie zwei blank polierte Bowlingkugeln schimmern.
    Sie stolpert nach unten, schafft es gerade noch in ihre Wohnung, bevor sie der Länge nach hinfällt, nicht mal mehr dazu in der Lage, die Arme auszustrecken und den Sturz abzufedern, sodass sie mit dem Gesicht frontal auf dem Boden aufschlägt.
    Einen Augenblick bleibt sie einfach so liegen. Spürt die Panik in sich pulsen. Dann reißt sie den Kopf nach hinten und lässt ihn noch mal nach vorne sausen. Und noch mal. Und gleich noch mal. Wieder und wieder donnert ihre Stirn auf die Dielen. Aber so weit meine Mutter auch ausholt, so gewaltsam sie den Kopf auf den Boden knallt  – die Schläge außen können die in ihrem Innern nicht übertönen. Wie ein Countdown schwellen sie an, werden immer drängender, als würden sie unaufhaltsam auf den einen Punkt zusteuern, an dem der Schmerz absolut ist. An dem die Erkenntnis sie völlig übermannen wird, sie zerreißen, ihr wenigstens das Bewusstsein rauben. Aber der große Knall will einfach nicht kommen. Mit ungebremster Wucht treffen die Schläge auf ihren Schädel, ihre Brust, die Schultern, lassen die Bretter unter ihr erzittern, bis meine Mutter es endlich nicht mehr aushält. Einen Schrei im Hals, der sich nicht zu befreien weiß, springt sie auf und läuft den Flur entlang, ins Wohnzimmer, in die Küche, dreht sich um sich selbst auf der Suche nach einer Stelle, an der der Boden eine Sekunde still steht, an der sie zu Atem kommen, an der sie denken kann, nur ganz kurz denken, bitte, nur einen einzigen klaren Gedanken fassen. Sie schlingt die Arme um sich selbst, krallt die Finger ins Fleisch. Sie läuft ins Badezimmer, zerrt das Kleid vom Kopf. Sie stellt sich unter die Dusche, lässt sich das Wasser auf den Kopf prasseln. Und kann nach zwei Minuten die Enge zwischen Fliesenwand und Duschvorhang doch nicht mehr ertragen. Sie läuft wieder nach draußen. Reißt die Fenster auf. Hängt den Kopf raus. Spürt den Wind, der an ihren nassen Haaren zieht. Denkt, dass sie sich vielleicht wieder eine Grippe einfängt. Hofft, dass sie sich wieder eine Grippe einfängt. Betet, dass sie sich wieder eine Grippe einfängt, oder wie auch immer man das flehentliche Wimmern, mit dem sie sich immer wieder dieselben Worte vorsagt, eine Grippe, bitte, bitte eine Grippe, ein Infekt, eine Lungenentzündung, irgendwas, je schlimmer desto besser, bitte, bitte, nennen will. Sie legt sich nackt aufs Bett. Schließt die Augen. Läuft zurück ins Bad. Kramt im Medizinschränkchen herum. Findet ein paar Beruhigungstabletten, die mein

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