Fünf Kopeken
Vater dagelassen hat. Und knipst, wo sie schon mal dabei ist, noch ein paar weitere Pillen aus den knisternden Alupackungen, grüne, blaue, weiße Kapseln, die sie sich alle auf einmal in den Mund schiebt und mit etwas Hustensaft hinunterspült.
Sie legt sich wieder hin, wartet auf den Schlaf. Und tatsächlich kommt der auch, schnell und übermächtig, zieht sie in die Tiefe und hält sie dort so fest, dass weder der anbrechende Morgen vor dem Fenster, noch ihre volle Blase, die sich stattdessen in die Matratze entleert, sie daraus losreißen können.
Aber die Sorge meiner Großmutter ist stärker als beide zusammen.
»Was ist denn los bei dir?«, kreischt es aus dem Hörer, den die Hand meiner Mutter ganz alleine abgenommen hat, noch ehe sie selbst richtig wach ist.
»Was soll denn los sein?«, murmelt sie.
»Ich hab’s mindestens 20mal klingen lassen«, ruft meine Großmutter, »geht’s dir gut?«
»Ja, ja, ich hab geschlafen.«
»Um diese Zeit?«
Meine Mutter hebt schwerfällig den Kopf, aber die Ziffern auf dem Wecker verschwimmen vor ihren Lidern. »Mir ist nicht so gut.«
»Kein Wunder, wenn du den ganzen Tag im Bett liegst! In der Brigitte schreiben sie, gerade wenn man unter erhöhtem Stress steht, ist Bewegung das A und O!«
Die Finger meiner Mutter legen sich auf ihre Nase, während sie ganz langsam den stechenden Geruch wahrnimmt. »Ich war erst vorgestern schwimmen«, sagt sie, nein, sagt es aus ihr, spuckt ihr Mund die passende Antwort aus, ohne dass die Bilder dazu schon in ihrem Kopf wären, ohne das Davor und das Danach.
»Bei dem Wetter!«, ruft meine Großmutter, »es ist doch viel zu kalt!«
Meine Mutter drückt die zweite Hand vor den Mund, lauscht benommen dem Gezeter an ihrem Ohr, so wie man einem Kinderlied lauscht, das man vielleicht nicht mag, bei dem einem aber doch trotz allem ein nostalgisches Lächeln über die Lippen huscht.
Ihre Augen fallen wieder zu. Fast sackt sie erneut weg, so beruhigend ist die Unruhe meiner Großmutter.
Als ihr Körper sich plötzlich erinnert.
Den Magen schon im Hals lässt sie den Hörer fallen, rennt auf die Toilette und wirft sich über die Schüssel. Ihre Eingeweide krampfen sich zusammen, während sich das Wissen um sein Verschwinden wie ein plötzlich ausströmendes Gift in ihr ausbreitet, ihren Rachen verätzt, ihr die Tränen in die Augen treibt. Atemlos klammert sie sich an die Klobrille, sieht die Kapseln, die noch genauso glatt und bunt wie am Vortag in der braunen Suppe treiben. Ihre Finger streichen hektisch über die Brust, bohren sich zwischen die Rippen, als könnten sie so die Faust, die ihr Herz umschließt, irgendwie losreißen.
Sie torkelt ins Bett zurück, zieht sich die Decke über den Kopf. Stützt sich wieder auf und knallt den tutenden Hörer auf die Gabel.
Sofort klingelt es wieder.
»Alles in Ordnung?«, schreit meine Großmutter. »Du warst plötzlich einfach weg!«
»Tut mir leid«, nuschelt meine Mutter, »musste aufs Klo.«
»Das ist doch kein Grund, einfach wegzurennen! Ich dachte, es sei sonst was passiert!«
»Tschuldigung, war dringend.«
»Bist du krank?«
Vielleicht, denkt meine Mutter und zieht die Decke wieder über den Kopf.
Aber diesmal sollte ihr Körper ihr diese Gnade nicht gönnen.
Nicht mal in den Schlaf ließ er sie zurück. Meine Mutter wälzte sich hin und her, riss erneut den Kopf nach hinten und warf ihn nach vorne, aber hier, auf der Matratze, brachte ihr das nicht mal die Zehntelsekunde Erleichterung des Schmerzes.
Sie kroch aus dem Bett, zog die Laken ab, weil sie glaubte, dass sie ohne den penetranten Uringestank vielleicht leichter zur Ruhe käme. Sie zerrte ein neues Spannbetttuch aus dem Schrank, friemelte es fahrig über die Ecken. Wusch sich. Legte sich wieder hin.
Vielleicht kommt er ja doch zurück, fiel ihr ein.
Vielleicht ist er gar nicht richtig weg.
Vielleicht steht er jede Sekunde vor der Tür.
»Die Deutschen!«, würde er sagen und sein großes, gelbes Grinsen zeigen, »haben sie mal keinen Plan, wie’s weitergeht, geraten sie sofort in Panik. Natürlich bin ich noch da!«
»Aber warum hast du denn dann gekündigt?«
»Ach das! Ich hatte einfach mal Lust auf was Neues. Man kann doch nicht sein Leben lang nur Teller schleppen.«
Natürlich kommt er wieder, sagte sie sich und stand wieder auf. Setzte sich aufs Fensterbrett. Starrte zur Hoftür, damit sie ihn nicht verpasste. Starrte zum Fenster, falls sie ihn schon verpasst hatte.
Meine Großmutter rief wieder
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