Fünf Kopeken
an.
»Ich wollte nur sehen, ob’s dir auch wirklich gut geht«, jammerte sie, den Tränen nahe.
»Ja, ja«, antwortete meine Mutter.
»Wann kommst du denn dann endlich ins Büro?«
Aber meine Mutter konnte ihren Wachposten unmöglich aufgeben.
»Ich muss lernen«, sagte sie und legte auf.
Aber die Tür blieb zu und das Fenster tat es auch, warf nur grau in grau das Spiegelbild der gegenüberliegenden Wand zurück, an der sich ebenfalls nichts tat. Genauso wenig wie hinter irgendeinem der andern Fenster, als sei das ganze Haus ausgestorben.
Vielleicht musste er zurück in die Ukraine fahren, er hatte doch neulich erwähnt, dass es Probleme zu Hause gäbe.
Aber dann hätte er sich doch wenigstens verabschieden können.
Vielleicht wollte er es ihr leichter machen.
Vielleicht wollte er es sich selbst leichter machen.
Mach dir doch nichts vor! Du hast ihm Angst gemacht mit deiner ganzen Gefühlsduselei. Mit deiner Anhänglichkeit. Mit deinem endlosen Ich-liebe-dich-Gelaber.
Ihr fiel ein, dass er damals beim Essen nur von seiner »Schwester« gesprochen hatte, ohne ihr einen Namen zu geben.
Vielleicht hatte er sie ja damals schon belogen. Vielleicht hatte er gar keine zweite Schwester. Vielleicht hatte er nicht mal die erste. Vielleicht gab es überhaupt keine Anna. Vielleicht war alles, was er ihr je erzählt hatte, frei erfunden und er ein Lügner!
Unsinn, hör auf, von dir auf andere zu schließen. Was hätte er denn bitte davon gehabt?
Aber er hätte mir doch wenigstens einen Hinweis geben müssen. Man kann doch nicht einfach so verschwinden! Wer macht denn so was?
Aber es war leichter, sich selbst schlechtzudenken als ihn.
Du warst es! Du hast ihn verjagt! Es ist alles deine Schuld, schrie sie sich an und schlug wieder irgendeinen Körperteil gegen die Wand.
Sie versuchte sich jeden noch so kleinen Moment der letzten Wochen ins Gedächtnis zu rufen. Was er gesagt hatte. Was sie geantwortet hatte. Ihr Gesicht. Sein Gesicht. Versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern, an ein Wort, eine Berührung, einen Blick, der das Hin und Her ein für alle Mal beenden würde, der so stark wäre, dass er alle anderen Blicke und Berührungen und Worte verdrängen könnte. Der sie verstehen lassen würde, was passiert war.
Sie stöpselte das Telefon aus, rührte sich nicht, wusch sich nicht, ernährte sich tagelang nur von Konserven. Selbst auf die Toilette ging sie nur widerwillig, um das Erinnern nicht zu unterbrechen, als müsse sie sich nur genug konzentrieren, um das Problem zu lösen, als sei es wieder nur eine Frage des Willens. Immer wieder glaubte sie, einen Weg aus dem Dickicht gefunden zu haben. Eine plötzliche Einsicht, mit der sich das wild wuchernde Gedenke auf einen hübschen, klaren Schlusssatz zurechtschneiden ließ. Es sei nur eine kleine Schwärmerei gewesen, im Grunde sei es gut, dass er weg war. Dann wieder war er alles, was sie wollte, und sie nichts ohne ihn. Sie dachte ihre Liebe groß und klein, drehte sie hin und her, wusste, dass das alles nichts brachte, dass er am Ende doch weg war. Und konnte doch nicht aufhören.
Die Einzige, mit der sie sprach, war Babsi.
Eines Tages hatte sie einfach vor der Tür gestanden und die Klingel gedrückt, die für einen anderen bestimmt war.
»Warum ist bei dir denn seit Tagen besetzt?«, fragte sie, während meine Mutter suchend ins Treppenhaus schaute, als könnte es sich doch um ein Missverständnis handeln.
Babsi schob sich an ihr vorbei ins Innere, rümpfte die Nase. Und als meine Mutter hinter ihr herkam, noch mehr.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie und strich ihr über das fettige Haar.
Meine Mutter schubste rüde ihre Hand weg. »Ja doch.«
Babsi sah sich um, nahm eine leere Dose Ravioli von der Couch, um sich zu setzen.
»Was machst du da?«, fuhr meine Mutter sie an. Sie riss ihr die Dose aus der Hand und stellte sie zurück auf ihren Platz, als bilde das Durcheinander ein fein ausgeklügeltes System.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte Babsi, und, etwas sanfter: »Hast du deine Tage?«
»Unsinn«, rief meine Mutter ärgerlich und verschränkte die Arme vor den Ölflecken auf ihrem T-Shirt .
»Jetzt gehst du erstmal unter die Dusche und dann erzählst du mir, was los ist«, sagte Babsi ruhig und lief ins Schlafzimmer, öffnete den Schrank. Aber statt des Handtuchs, das sie suchte, fand sie nur die leeren Kleiderbügel auf der Seite meines Vaters.
Sie stellte meine Mutter zur Rede, die endlich die Trennung von Arno zugab. Babsi war
Weitere Kostenlose Bücher