Fünf Tanten und ein Halleluja
zählte sie, addierte, subtrahierte, stellte Zahlenpaare gegeneinander, bildete Quersummen und berechnete Perioden â mit anderen Worten: fand ihren Frieden in der Welt. Es war eine mühselige Angelegenheit, doch Tante Kamilla konnte nicht anders. Sie musste das nun mal tun. Und alle anderen hatten sich daran gewöhnt.
»Seit wann zählt sie denn Menschen?«, fragte er.
»So genau wissen wir das nicht. Seit einem Jahr etwa. Sie macht das aber nur, wenn sie in einer Stresssituation ist.«
Toni hätte ihr gern irgendwie geholfen, doch er hatte früh gelernt, sie am besten nicht zu stören, wenn sie gerade zählte. Er erinnerte sich, wie sie jeden Samstag zum GroÃeinkauf in die Stadt gefahren waren und Toni auf der Rückbank immer schweigen musste, um Tante Kamilla nicht beim StraÃenlaternenzählen zu stören.
Einmal hatte er ein riesiges Feuerwehrauto gesehen, mit ausgefahrenem Leiterwagen und einem Feuerwehrmann, der ein Kätzchen von einem Baum holte, und er hatte gerufen: »Tante Kamilla, guck mal! Der Mann da mit der Muschi!« Und Kamilla, völlig aus dem Konzept geraten, war mit dem groÃen Kombi so schwer ins Trudeln geraten, dass sie beinahe ins Schaufenster einer Bäckerei gerast wären.
Nach der Vollbremsung hatten sie quer auf dem Bürgersteig gestanden, und Toni hatte sofort gewusst, dass er an dieser Eskalation schuld war: Hätte er doch nur geschwiegen. Tante Kamilla erholte sich zwar schnell von dem Beinaheunfall, doch das änderte nichts an ihrer Fassungslosigkeit. Sie hatte nur noch Augen für die Kette der StraÃenlaternen, die sie bereits passiert hatten.
Es dauerte, bis sie ihr Unglück in Worte fassen konnte: »Jetzt hab ich die Zahl vergessen.« Der Satz lastete schwer in der Stille des Wagens. Bis Toni irgendwann fragte: »Müssen wir jetzt zurückfahren?« Kamilla rang einen Moment mit sich und wirkte plötzlich ganz verloren, bis sie schlieÃlich sagte: »Nein. Das ist doch Unsinn. Wir fahren nach Hause.« Und sie fuhr. Ohne zurückzublicken. Doch für den Rest des Tages war alle Freude von ihr gewichen.
»Wie geht das denn hier, verflucht noch mal!« Tante Ebba schlug mit der Hand auf den Automaten ein. »So eine blöde Maschine!«
Toni versuchte sich vorzudrängen. »Tante Ebba â¦Â«
Doch Ebba bewegte sich nicht vom Fleck.
»Ebba, jetzt lass Toni doch mal ran«, versuchte Tante Claire zu vermitteln.
»Irgendwie muss das hier funktionieren! Ah, jetzt hab ichâs.«
»Tante Ebba â¦Â«
»Geht doch mal alle weg, ich habâs ja gleich.«
»Aber â¦Â«
»Und jetzt muss ich hier drücken, seht ihr?« Sie hielt inne. »Aber welches Ticket brauchen wir denn? Wer soll das alles verstehen?« Sie blickte sich suchend um. »Toni! Wo bleibst du denn? Jetzt hilf doch mal!«
Toni stellte sich neben sie. Dabei versuchte er Tante Kamilla nicht aus den Augen zu lassen. Die sah nämlich inzwischen ganz blass aus. Das Zählen der vielen Menschen überforderte sie offensichtlich. Sie stolperte ein paar Schritte zurück. Er würde aufpassen müssen, dass sie nicht verloren ging.
»Am besten guckst du dir die Gruppenkarten an, Tante Ebba«, sagte er. »Siehst du, hier?«
Sie fegte seine Hand vom Monitor. »Nein, warte! Ich will keine Karte, die nur für heute gültig ist.«
»Aber ihr seid doch â¦Â«
»Ach was! Jetzt lass mich mal machen!«
Toni atmete durch. Er wollte sich nicht aufdrängen, schlieÃlich hatte er das Tarifsystem der BVG selbst nie so ganz verstanden. Also lieà er Tante Ebba ein vermutlich viel zu teures Ticket wählen, ohne sich weiter einzumischen. Alle zückten ihre Portemonnaies und kramten nach Kleingeld.
Nur Tante Kamilla nicht. Die stand inzwischen mit dem Rücken an der gekachelten Wand, und ihre Lippen bewegten sich stumm beim Zählen.
Hinter ihnen fuhr ein Zug in den Bahnhof ein.
»Ist das unserer?«, fragte Tante Ebba aufgeschreckt.
»Ja, schon. Aber wir können auch den nächsten â¦Â«
»Beeilung! Den kriegen wir noch!«
In Windeseile gingen die Münzen in den Schlitz, und das Ticket wurde gedruckt. Dann rafften alle ihr Gepäck zusammen, und es ging los.
»Schnell, den kriegen wir noch!«
Toni spürte, wie auch sein Herzschlag sich beschleunigte. Er blickte sich um. Tante Kamilla. Er hastete auf sie zu, nahm sie am Arm und
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