Fünf Tanten und ein Halleluja
Tage noch mal nach Berlin. Beim letzten Mal hat ja die Mauer noch gestanden, das war dreiundsiebzig, und wir wurden in Helmstedt zwei Stunden lang gefilzt, du weiÃt schon, wo dieser Major war, der Margret Muggenborg zwei Stunden lang vernommen hat, also das muss man sich mal vorstellen, als wäre sie eine Spionin vom CIA, unsere Margret. Nun ja, seitdem hat sich wohl einiges getan. Ach, wie schön ist es, wieder hier zu sein. Ich freu mich so. Berlin, so eine groÃe Stadt. Und du wirkst auch ganz weltmännisch. Ich hoffe doch, wir müssen dich jetzt nicht siezen.«
Hinter ihr stieg Tante Helga aus dem Bus. Wie immer stark geschminkt und mit perfekt sitzender Frisur. Doch heute lagen ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, und ihre Bewegungen wirkten steif und schmerzvoll.
»⦠und was wir unterwegs alles gesehen haben«, plapperte Tante Immi weiter, »du machst dir keine Vorstellung. Die alten Grenzanlagen sind ja kaum noch auszumachen, ganz verrottet ist das alles, aber wer weiÃ, wo sie stehen, der kann sie noch entdecken. Ich habe zu deiner Tante Helga gesagt, sie soll â¦Â«
»Hallo, Toni«, kam es gepresst von Tante Helga.
In diesem Moment schallte Tante Ebbas Stimme über den Platz. »Immi! Komm her und hilf deiner Schwester!«
Tante Immi winkte ihr zu und wandte sich dann wieder an Toni. »Helga hat Rückenschmerzen. Die ganze Fahrt über hat sie dagesessen wie ein Stockfisch. Mir macht es ja nichts aus, im Bus zu sitzen, ich könnte tagelang mit dem Bus fahren, das wäre herrlich, aber Helga â¦Â«
»Immi!«, rief Tante Ebba. »Hörst du nicht?«
»Ist ja gut, ich komm schon.« Tante Immi lächelte Toni entschuldigend zu und lief Richtung Gebüsch.
Tante Helga stützte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Koffer. Toni wusste bei ihr nie so recht, was er sagen sollte. Sie mochte keine Kinder, und so hatten sie damals nur wenig miteinander zu tun gehabt.
Etliche Minuten verstrichen, bis die anderen zurückkehrten. Tante Kamilla hatte alles gut überstanden und war offensichtlich auch mit keiner Spritze in Berührung gekommen. Bevor Toni sie jedoch gebührend begrüÃen konnte, übernahm Tante Ebba wieder das Zepter.
»So, sind alle da? Habt ihr eure Koffer? Ist nichts mehr im Bus?« Sie holte Luft. »Also gut. Dann kann es jetzt losgehen.«
3. Kapitel
Auf der Treppe, die zum U-Bahnhof hinunterführte, rief Tante Ebba: »Bleibt alle zusammen! Hört ihr? Alle zusammenbleiben!«
Mit Taschen und Rollkoffern bewaffnet, bildeten die Tanten eine Ellipse und bewegten sich dann wie ein Panzer durchs Gewühl. Tante Ebba steuerte einen Fahrkartenautomaten an, den sie am anderen Ende der Halle entdeckt hatte.
»Warte, Tante Ebba! Lass uns lieber â¦Â«
Doch Toni wurde nicht gehört.
»Tante Ebba! Jetzt warte doch!«
Nur Tante Helga bemerkte, dass er etwas gesagt hatte, und drehte sich zu ihm um. Doch als sie die anderen unbeirrt weiterlaufen sah, beschloss sie nach kurzem Zögern, doch lieber so zu tun, als wäre nichts gewesen. Im Zweifelsfall folgte man besser Tante Ebba.
Toni seufzte. Er hatte eigentlich geplant, sich am Fahrkartenhäuschen beraten zu lassen. Aber jetzt würden sie es eben mit dem Automaten versuchen. Das war vielleicht etwas schwieriger, aber natürlich nicht unmöglich. Er beeilte sich also, um Tante Ebba einzuholen.
Ein junger Tourist versperrte den Weg. Stand einfach vor dem Automaten herum und studierte seinen U-Bahn-Plan.
»Wie lange brauchen Sie denn noch?«, herrschte Tante Ebba ihn an. Er sah erschrocken auf, wahrscheinlich ohne ein Wort verstanden zu haben, und hastete verstört davon.
»Also wirklich, Leute gibtâs«, murmelte sie und stellte den Rollkoffer ab. Dann nahm sie den Automaten in Augenschein.
Toni wurde auf Tante Kamilla aufmerksam. Sie stand ein wenig abseits, hatte die Stirn in Falten gelegt und beobachtete nervös die Menschenmenge. Dabei wirkte sie irgendwie fiebrig und gehetzt.
»Tante Kamilla �«
Doch sie hatte weder Augen noch Ohren für Toni.
Tante Claire trat neben ihn. »Es ist in letzter Zeit schlimmer geworden mit ihr«, sagte sie leise. »Sie zählt nun auch Menschen.«
Toni kannte natürlich Kamillas Zählzwang. Doch bisher hatte sie nur tote und unbewegte Dinge gezählt. Häuser zum Beispiel oder Geländerstreben und Marmeladengläser. Dann
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