Fünf Tanten und ein Halleluja
Unsinn. Den Namen habe ich mir ausgedacht. Ich fand, wer aussieht wie ich, kann schlecht Kaluschke heiÃen. Das ist doch bescheuert.« Sie seufzte. »Glaub mir, meine Mutter war keine von diesen netten Nutten, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Sie war kaltherzig und hart. Und sie war eine Rassistin. Der Umstand, dass sie ein farbiges Kind hatte, konnte nichts daran ändern. Und jetzt, wo sie alt und hilflos ist, da erinnert sie sich daran, dass sie ein Kind hat. Und tyrannisiert mich. Weil sie sonst keinen mehr hat, den sie schlecht behandeln kann. Und was mache ich? Ich kümmere mich um sie. Ich helfe ihr beim Einkauf, beim Putzen und bringe sie zum Arzt. Schön blöd, was?«
Toni sagte nichts. Es wurde still im Treppenhaus. Dann wedelte Kayla mit den Händen, als wollte sie die Gedanken an ihre Mutter verscheuchen.
»Verstehst du, was ich dir sagen will, Toni? Natürlich bist du verarscht worden. Und du hast auch viel Dreck fressen müssen. Aber diese Frauen, die dich da besuchen, das sind feine Menschen. Die dachten, sie hätten gute Gründe, dich zu belügen. Und weiÃt du was, Toni? Du solltest nicht dasitzen und dich nicht fragen, wer dich betrogen hat. Stattdessen solltest du dich fragen: Wer ist es, der dich liebt? Hörst du? Wer liebt dich? Denn darum geht es: um Liebe. Alles andere ist egal.«
Toni spürte alle längst vergessenen Wunden. Sie lagen offen da, er konnte nichts dagegen unternehmen.
»Diese Frauen würden für dich durchs Feuer gehen«, sagte Kayla. »Und was machst du? Du benimmst dich wie ein beleidigtes Prinzesschen.«
Er sagte nichts. Ihm fehlten die Worte.
»Also, was ist jetzt?«, fragte sie. »Kommst du mit?«
Er wusste: Irgendwie hatte Kayla recht. Aber er konnte trotzdem nicht. Er war noch viel zu verwirrt, zu verletzt und zu enttäuscht.
Kayla wartete. Doch Toni hielt den Blick eisern auf den Boden gerichtet.
»Na gut«, sagte sie. »Dann eben nicht.«
Sie wandte sich ab und ging zur Treppe. Nach ein paar Stufen blieb sie stehen.
»In ein paar Stunden fahren sie nach Hause«, sagte sie. »Falls du es dir anders überlegst, in deiner Wohnung erreichst du bis dahin auf jeden Fall immer eine deiner Tanten.«
9. Kapitel
Henrik fuhr langsamer. Kopfsteinpflaster, hohe Kiefern am Wegesrand und hinter Heckenrosen und WeiÃdornbüschen hübsche Häuschen, die von ebenso kleinen Gärten umgeben waren. Bunte Markisen waren zu erkennen, Rasensprenger, Birnbäume und überall ältere Leute, die in Gartenstühlen saÃen, Zeitung lasen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen lieÃen. Es war eine heile Welt. Claire atmete flach.
SchlieÃlich hielt Henrik den Wagen und stellte den Motor ab. Sie waren an ihrem Ziel angekommen. Ein kleines Hutzelhäuschen mit schiefem Giebel und hölzernen Fensterläden. Ein Sandweg führte zur Veranda, und überall blühten Geranien. Alles sah so schrecklich gemütlich aus. Es war ein richtiges Zuhause.
Hinter einem Fenster bewegte sich der Vorhang. Porzellan schepperte, eine Gestalt war schemenhaft zu erkennen, danach wurde wieder alles ruhig. Rainer arbeitete zu Hause, das hatten sie herausgefunden. Er schrieb Drehbücher fürs Fernsehen. Irgendeine Krimiserie, die im Vorabendprogramm lief.
Henrik legte den Arm aufs Lenkrad.
»Komm schon. Worauf wartest du?«
Claire blieb reglos sitzen und sah zu dem Häuschen hinüber. Damals in Papenburg, da hatte sie sich oft ausgemalt, wie das Leben mit Rainer werden würde. Sie hatte alles schon vor sich gesehen: Rainer und sie würden die ganze Welt bereisen, er als Journalist, denn das wollte er damals werden, und Claire als Schauspielerin. Sie würde beim Film sein oder beim Theater, überall dort, wo Rainer gerade arbeitete. Ein bisschen wie in Fellinis »La dolce vita«.
So hatte sie es sich damals vorgestellt. Rainer und sie in der Künstlerboheme. Sie würden Partys feiern, tagsüber in der Sonne liegen, alle möglichen Lebensentwürfe ausprobieren. Anders als bei Fellini würden sie sich aber dabei lieben. Sie würden alles gemeinsam machen. Claire wäre ihm überallhin gefolgt. Nur raus aus Papenburg. Mit ihm wollte sie sich ins pralle Leben werfen. Alles hinter sich lassen.
»Weinst du etwa, Claire?«, fragte Henrik.
Sie lächelte. »Ich weià nicht, mein verehrter Herr, es ist ins Aug mir was gekommen.«
»Ins Auge?
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