Fünf Tanten und ein Halleluja
vorsichtshalber zögerte sie noch einen Moment, aber da kein Protest folgte, warf sie das Gerät in hohem Bogen über das Geländer. Mit einem leisen Plumps landete es im Wasser.
»Und? Wie fühlst du dich jetzt?«, wollte Kayla wissen.
Helga dachte nach. »Gut.«
»Sollen wir weiterfahren?«
»Nein, lass uns noch ein bisschen bleiben.«
Sie blieben, bis die Sonne untergegangen war. Kayla stellte vorsichtshalber das Warndreieck auf und öffnete die Motorhaube. Dann standen sie Schulter an Schulter am Brückengeländer und erlebten schweigend die Schönheit des Moments.
AnschlieÃend ging es weiter zum Bahnhof Zoo. Dort wartete eine Ãberraschung auf sie. Wo sich Kamilla hätte aufhalten müssen, war nur ein breiter Bürgersteig. Weit und breit keine Spur von ihr.
»Aber wie kann das sein?«, fragte Helga.
»Sie ist noch unter der Erde. Im U-Bahn-System. Sie ist gar nicht hochgekommen.«
»Du meinst �« Helga sah verstört auf den Bürgersteig. »Du lieber Gott, was ist nur mit ihr passiert?«
»Keine Sorge, Helga. Wir finden sie. Warte kurz.«
Kayla öffnete den Kofferraum und zog einen Rucksack heraus. Dann hakte sie sich bei Helga unter, und gemeinsam gingen sie zum nächsten U-Bahn-Aufgang.
Unten war der Feierabendverkehr zwar vorbei, dennoch herrschte Betriebsamkeit. Eine Reisegruppe mit Rollkoffern zog vorüber, Geschäftsleute mit gelockerten Krawatten, ein gepierctes Mädchen. Kayla zog einen Kompass hervor.
»Hier lang«, sagte sie. »Nach Norden.«
Sie durchquerten die Halle und erreichten den Gang, der zur gesuchten Position führte. Hier wurde es ruhiger. Doch von Kamilla war immer noch nichts zu sehen. Geflieste Wände, Werbeplakate, Graffiti, das war alles.
»Seltsam«, meinte Kayla. »Helga, versuch dich zu erinnern. Hat Kamilla irgendwas gesagt? Wollte sie irgendwo hin?«
»Aufs Klo. Sie musste mal. Aber hier sind keine Toiletten, oder?«
Da entdeckten sie das verwitterte WC-Schild.
»Aber das kann doch nicht sein«, meinte Helga. »Das ist doch ein Scherz, oder?«
»Sieht zumindest so aus.«
Vielleicht war hier unten tatsächlich mal eine Toilette gewesen, aber dem Schild nach zu urteilen war sie seit Ewigkeiten nicht mehr in Betrieb.
»Sieh mal dort.« Kayla deutete auf eine fleckige Tür. Sie hatte dieselbe schmutzig gelbe Farbe wie die Fliesen und war daher beinahe unsichtbar.
»Nein, Kayla. Vergiss es. Kamilla würde niemals â¦Â«
Trotzdem lief Kayla hinüber und versuchte die Tür zu öffnen. Doch sie war verschlossen.
»Ohne ihr Desinfektionsset geht sie nicht mal bei mir aufs Klo. Eher würde sie sterben, als ⦠Ich mein, guck dir das doch mal an. Da würde sogar ich es mir verkneifen.«
»Mag sein, dass Kamilla tatsächlich nicht da drin ist. Aber ihre Handtasche ist es bestimmt.«
Kayla blickte sich um. Etwas abseits entdeckte sie eine BVG-Angestellte, die mit einem riesigen Schlüsselbund an der Hüfte zur Haupthalle ging.
»Warte hier. Ich bin gleich wieder da.« Und sie lief los. »Entschuldigen Sie! Hallo!«
Die Frau blieb stehen und drehte sich um.
»Sorry, dass ich Sie hier so anquatsche, aber ich hab ein Problem. Wissen, Sie, meine Freundin muss dringend aufs Klo. Da vorne ist doch eine Toilette, oder?«
»Schon, aber da sollte Sie lieber nicht hingehen. Bringen Sie sie nach oben zu den Bahnhofstoiletten, die sind tiptop in Ordnung. Die hier unten sind ein Albtraum. Ist die Tür nicht auch verschlossen?«
»Deshalb frage ich ja.«
»Nein, glauben Sie mir, das ist nix. Die Toiletten da waren früher mal öffentlich, aber das ist schon lange her. Jetzt wurden sie eine Zeit lang den Bauarbeitern zur Verfügung gestellt, die an der U2 arbeiten. Dadurch standen sie ein paar Tage offen, und die übelsten Leute haben sich dahin verirrt. Zum Glück sind die Türen wieder zu, und wenn Sie mich fragen, wäre es das Beste, man würde den Eingang zumauern lassen.«
»Gut, ich verstehe. Dann bring ich sie nach oben. Danke für den Tipp.«
Kayla kehrte zurück. Sie nahm den Rucksack und kramte einen kleinen Gegenstand hervor. »Also gut«, sagte sie. »Du hältst Wache?«
»Was hast du denn da?«
»Einen Dietrich.«
»Was? Woher �«
»WeiÃt du, Helga, da, wo ich aufgewachsen bin, musste man einfach ein paar Dinge
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