Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
dem Funkoffizier, gleichgültig, ob er in der Ostsee absäuft oder bei den Färöer-Inseln; es ist ihm wurscht wie die Frage: Rum oder Korn? Hauptsache Flasche, Hauptsache Ende.
Er sieht längst keine Chance mehr, dem Tod an der Wasserfront zu entlaufen, und so quittiert er dieses verrückte Himmelfahrtskommando mit einem Schulterheben, und das besagt: Ob verbrannt oder versenkt, tot ist tot, und hin ist hin …
Endlich hat der Funkoffizier die Radio-Elektriker gefunden, ihnen befohlen, die Lautsprecher zu installieren und das Mikrophon in seinem Funkdeck anzubringen. Jetzt wird er darangehen, ein Programm zusammenzustellen, das sich gewaschen hat: Kabarett auf Leben und Tod.
In der Tür zu seiner Funkbude bleibt er zunächst einmal stehen und verschluckt den Fluch: Am Boden krabbelt der Funkmaat, genannt Möhrenkopf, auf allen vieren. Jürgen, der Junge, dessen Mutter im Schock regungslos auf einer Bahre im Lazarettdeck liegt, gerade vom Arzt eine Beruhigungsspritze bekommt und unter seinen besänftigenden Worten endlich einschläft – dieser Junge ist wieder vergnügt. Der Fünfjährige, mit Heftpflaster verklebt, sitzt rittlings auf den Schultern des Maats und hält sich in seinen Kraushaaren fest.
»Hoppa-hoppa-Reiter …!« sagt Christian Straff mürrisch. »Lass den Quatsch, Möhrenkopf! … Schau, daß du endlich die Mutter findest!«
»Bin ich ein Zauberer?«
Der Junge klettert vom Rücken des Maats herunter, betrachtet den Funkoffizier. Seine Augen werden rund vor Angst.
»Siehste«, lacht Möhrenkopf, »der Junge hat gleich gemerkt, was für ein Menschenfresser Sie sind.« Er nimmt Jürgen und setzt ihn auf das Notbett.
»Die Mutter ist bestimmt an Bord«, sagt Straff.
»Weiß der Teufel, wo das Weib steckt! … Aber ich hab's, Kaleu.« Er grinst, daß sein Möhrengesicht zum Rettichkopf wird. »Ich such' mir ein Kindermädchen … wissen Se, so 'ne Schnucklige …«, er malt mit der Hand reichliche Konturen in die Luft, »und dann ist uns allen geholfen: dem Jungen, mir und …«
Der Funkoffizier nähert sich vorsichtig dem Jungen, der ihn jetzt wiedererkennt und matt anlächelt.
»Hier«, sagt Christian Straff und reicht ihm wie einem Füllen ein Stück Würfelzucker.
Der Junge schnuppert halb begehrlich, halb mißtrauisch.
»Wie heißt du denn?«
»Jürgen.«
»Wie denn noch?«
»Fährbach.«
»Wie?«
»Jürgen Fährbach.«
»Fährbach?« fragt Christian Straff nachdenklich.
Jürgen nickt lebhaft.
So ein Zufall, denkt der Funkoffizier, ausgerechnet Fährbach. »Sag mal, Möhrenkopf«, fragt er den Maat, »ist der Name Fährbach häufig?«
»Kenn' allein schon drei, Kaleu«, brummelt der Maat.
Straff kennt nur einen: Georg Fährbach. Aus Berlin. Seinen besten Freund.
Eine Freundschaft, die für ein ganzes Leben gehalten hätte, wenn dieser Krieg nicht dazwischengekommen wäre.
Damals …
Christian Straff und Georg Fährbach waren damals unzertrennlich. Ihre Mütter fuhren sie im Kinderwagen gemeinsam spazieren. Später spielten sie am selben Sandhaufen. Schon in der Volksschule hießen sie die ›Zwillinge‹, und wenn der Lehrer dem einen der beiden Buben eine Ohrfeige geben mußte, knöpfte er sich auch gleich den anderen vor, weil sie ihre Streiche ja doch gemeinsam ausgeheckt hatten.
Die ›Zwillinge‹ kamen auf das Gymnasium, waren gleich gut im Sport und gleich schlecht im Latein. Sie lasen dieselben Schmöker, und sie verprügelten die gleichen Nachbarskinder. Sie stammten aus gutbürgerlichen Familien des Berliner Westens, und beider Eltern hielten den Wunsch ihrer Söhne, zur Handelsmarine zu gehen, für einen Pubertätsfimmel.
Christian und Georg waren zwei kräftige, staksige Pennäler, die Mühe hatten, sich ihre widerspenstigen Haare an den Schädel zu bürsten, als sie den Tanzkurs absolvierten. Sie verliebten sich in dasselbe Mädchen, prügelten sich und lachten hinterher. Sie hatten beide Angst vor dem Abitur, und sie schafften es schließlich – gerade noch.
Dann wurden sie beide Kadetten. Das große Leben begann ganz klein, und die Ferne, von der sie geträumt hatten, war das Oberdeck eines Schulschiffes, das sie schrubbten, bis sie Blasen an den Händen hatten. Die ›Zwillinge‹ waren zwanzig, als ihnen bei der christlichen Seefahrt unchristliche Sitten beigebracht wurden.
Sie überstanden es. Beide hatten sie hervorragende Beurteilungen und dasselbe Laster: Sie konnten den Mund nicht halten. Sie wurden wild, wenn ihnen Unrecht geschah.
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