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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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rhythmisch über die Flüchtlinge.
    Die Vorderen blieben betroffen stehen, wurden von ihren Hintermännern zu Boden gerissen, wälzten sich mit ihnen im Knäuel, versuchten sich freizuschaufeln und hörten, nachdem zunächst einmal der Lauf des Fiaskos aufgehalten war, im läppischen, verstärkten Viervierteltakt: »… da geb' ich alles hin …«
    Sie standen auf, sahen sich verwundert um, merkten, daß das Schiff noch nicht sank, hörten jetzt endlich auf die beruhigenden Worte der Besatzung, hatten wieder Boden unter den Füßen, trieben nicht mehr im Wasser, erinnerten sich flüchtig an den lustigen Ball, irgendwann, an die Tanzstunde der Tochter, an die Plattensammlung des Sohnes, an den bunten Abend im Radio, dachten verwundert und unbewußt an all das, was mit ihrer Habe weit zurücklag in Ost- oder Westpreußen …
    »… da fang' ich gleich zu küssen an, wenn ich in Stimmung bin …«
    Jetzt drängte keiner mehr, jeder hatte begriffen, wie töricht der grundlose Amoklauf war. Viele senkten den Kopf, andere schüttelten ihn. Einer lachte laut, idiotisch; ein zweiter pfiff bereits den Schlager mit. Andere scharten sich um den hochgewachsenen Seeoffizier, der lächelnd unter ihnen stand, nach Kölnisch Wasser duftend, schmuck in Schale, ein bunter Fleck im eintönigen Grau. Sie betrachteten Christian Straff wie eine Vision, wie einen Mann mit Sonderschicksal, der ihren Hunger nicht teilte, ihr Grauen nicht kannte.
    »Herrschaften«, rief der Erste Funkoffizier, zufrieden und ein wenig stolz auf seinen Plattentrick, »leider ist unser Promenadendeck gesperrt. Sie versäumen nichts, absolut nichts … Wir haben 15 Grad unter Null, und wer möchte sich noch so kurz vor Torschluß einen Schnupfen holen?«
    Einige Umstehende lachten. Es klang brüchig, aber es pflanzte sich fort.
    »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Schlafen Sie. Es steht bestens. Auf unserem Pott sind Sie sicherer als an Land. Verlassen Sie sich auf mich.«
    Ein paar glaubten ihm, gingen mit gutem Beispiel voran und damit freiwillig wieder unter Deck. Andere schlossen sich an. Keine Hetze mehr, keine Fragen, keine Parolen. Sie zerstreuten sich friedlich wie nach einem gelungenen Vereinsabend. Dem Letzten klopfte Straff auf die Schulter und sagte: »In Lübeck, da heben wir einen, was?«
    Seitdem liegt Ruhe über dem Schiff, unterstützt von der Müdigkeit, von der Erschöpfung und vom Hunger, denn Verpflegung gibt es nur für Kinder: eine Tasse Tee mit einer Scheibe Zwieback.
    Der Hunger sorgt für Disziplin. Er wird zum Seziermesser, das den Charakter des Menschen freilegt. Die einen teilen das letzte Stück Brot mit einem Fremden, der sich gestern noch am Fallreep auf ihre Kosten an Bord kämpfen wollte; andere Elendspassagiere eröffnen mit ihrem Mundvorrat einen lukrativen Schwarzhandel, ohne zu bedenken, daß sich ihr Papiergeld in Stunden vielleicht schon mit ihrem Körper im Salzwasser auflöst.
    Auch der Zugang zum Musiksaal ist bewacht. Einige Gierige hatten versucht, gewaltsam einzudringen und den Kindern den Zwieback aus der Hand zu reißen. Aber jetzt herrscht hier Ordnung und Disziplin. Nur Mütter werden eingelassen, mit ihren Kindern an der Hand, und diese betteln für die Kleinen, nicht für sich.
    »Komm, mein Junge«, sagt Christian Straff zu Jürgen, den er gerne losgeworden wäre. Er muß über sich selbst lächeln. Ausgerechnet er, der geborene Junggeselle, ist hier zur Gouvernante geworden, ohne zu wissen, warum. Vielleicht, weil der den Kleinen im Gedränge aufhob, fragt sich der Offizier, oder weil er seine Mutter nicht fand oder aber auch- und nun verliert sein straffes Gesicht das melancholisch-belustigte Lächeln – weil der Kleine Fährbach heißt, wie mein alter Kumpel? Wer weiß …
    Jedenfalls geht Christian Straff mit Jürgen zum Musiksaal.
    »Bitte, gnädige Frau«, sagt der Erste Wachoffizier, der die Kinderspeisung überwacht, und verbeugt sich ironisch vor Straff.
    »Idiot«, erwidert der Funkoffizier.
    Dann sieht er sich um, hofft, daß eine der Frauen auf ihn zukommt, die die Lautsprecherdurchsage nicht hören konnte, den kleinen Jürgen in die Arme reißt, während er verlegen den Dank entgegennehmen und dann verschwinden wird, so schnell er kann.
    Aber Christian Straff wartet und hofft vergeblich. Die Mütter haben keinen Blick für ihn. Sie kümmern sich nur um ihre Kinder, um ein zweites Stück Zwieback, um eine zusätzliche Tasse Tee. Und der Offizier sieht sie, Dutzende, Hunderte von Kindern,

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