Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
meinen Sie, Kaleu?«
Dann schweigen beide. Ab und zu greifen sie nach der Flasche. Die Trauer hängt schwer im Raum. Ablenken, denkt Christian Straff … »Keine neuen Meldungen?« fragt er Möhrenkopf.
»Nein, Kaleu.«
Auch der raue Bursche ist fertig, aufgewühlt und verzieht sich in einen Winkel.
Die Stille der Funkbude ist gespenstisch. Wenn nur etwas ticken würde oder schreien oder lachen! Erst jetzt fällt dem Funkoffizier auf, daß der Junge fehlt. »Wo ist denn unser kleiner Gast?« fragt er.
»Hab' ich doch schon gesagt«, antwortet die Möhre maulend. »Hab' ich zur Mutter gebracht … ist noch im Lazarettdeck.«
Ablenkung, denkt der Funkoffizier zum zweitenmal und steht müde auf zu einer Anstandsvisite ohne Neugier.
Plötzlich steht er Marion gegenüber, der strahlenden, jungen Frau seines Freundes Georg Fährbach, den ihm der Krieg vor einem Jahr entrissen hat.
Sie erkennen sich gleichzeitig, und beide sind sie zu überrascht und ergriffen für jedes Wort.
Endlich können sie mit banalen Sätzen die gegenseitige Erschütterung überbrücken.
»Ich bringe dich an Land«, sagt Christian, »du mußt entschuldigen, ich bin ganz durcheinander … Ich war nicht darauf gefaßt, dich hier … Und der Junge … Ich bin ein Idiot, Marion, ich hätte doch sehen müssen, daß er aussieht, wie …« Er verschluckt den Namen seines Freundes.
Von Georg wird nicht gesprochen. Nicht in dieser Stunde, nicht in der nächsten; es ist wie eine stumme Verabredung. Die beiden besprechen die Stationen der Odyssee zwischen Mutter und Kind hier an Bord. Sie erörtern, was sie falsch gemacht haben, obwohl es doch längst nebensächlich ist.
Als sie allein sind, sieht Christian an Marion vorbei, preßt die Kiefer aufeinander und fragt: »Was ist mit Georg?«
Die junge Frau schweigt.
»Tot?« fragt er.
»Schlimmer.«
»Schlimmer?« fragt Christian.
»Ja … Aber ich darf es … ich darf es niemanden sagen.«
»Mir auch nicht?«
»Dir schon«, versetzt Marion. »Entschuldige … aber die Gewohnheit.« Sie legt ihre Hand auf seinen Arm, und Christian liest aus ihrem Gesicht, daß etwas Brutales auf ihn zukommt.
Er will sich wieder ablenken, betrachtet Marions zierliche Stirne, ihre dunklen Augen, und er stellt fest, daß sie womöglich noch schöner geworden ist seit dem berühmten Marineabend in Kiel, kurz nach Kriegsbeginn, an dem Georg und er sie kennengelernt und um sie geworben hatten, bis er neidlos dem Freund den Sieg überlassen mußte.
»Es war vor vierzehn Monaten …«, beginnt Marion, »und Georg war endlich einmal wieder in Urlaub gekommen …«
Damals:
Georg war schmaler geworden und stiller, aber er lachte noch immer über den Krieg und sagte, er sei eine dumme Bagatelle. Er griff mit seinem Schnellboot keine britischen Zerstörer mehr an, nicht weil es ihm an Mut fehlte, sondern weil er es für töricht hielt.
Er war mit dem Krieg fertig, aus dem er sich ohnedies nicht viel gemacht hatte. Er hatte begriffen, daß es wichtiger war, seine Männer durchzubringen als britische Tonnage zu versenken. Er tat auch weiterhin, was man die Pflicht nannte, aber ohne Illusion. Er war ein dekorierter Kriegsheld, der mit dem Krieg nichts zu tun haben wollte.
Kapitänleutnant Georg Fährbach war über ein Jahr nicht zu Hause gewesen, bei Marion, seiner nach Ostpreußen evakuierten Frau, bei Jürgen, seinem Jungen. Der Junge war gewachsen, aber er fürchtete zunächst den eigenen Vater. Jürgen hatte noch keine Orange und keine Banane gesehen, und selbst die Schokolade, die sein Vater während der ewigen Fronteinsätze gespart hatte, konnte er dem Kleinen nicht geben, da sie mit Pervitin gefüllt war. Freilich benötigte der Vater keinen Mut aus der Droge, und Jürgen sollte auch weiterhin nachts schlafen können …
Georg hatte sich verändert, er war älter geworden; Marion wußte, daß er viel durchgemacht haben mußte. Am ersten Abend saßen sie lange nebeneinander im Wohnzimmer, Schulter an Schulter, rauchend, schweigend. Jedes Wort Georgs, jeder Blick, jede Geste waren eine Zärtlichkeit in einer knappen, männlichen Art.
Es war, als ob sie zum erstenmal beieinander wären, als ob sich in dieser Nacht erst alles erfüllen würde, als ob sie erst heute Mann und Frau würden. Zuviel Sehnsucht war dem Papier der Feldpostbriefe anvertraut worden, als daß Marion und Georg es gleich fassen konnten, beieinander zu sein.
Und so betrachtete der aufgeschossene blonde Marineoffizier, dieser moderne
Weitere Kostenlose Bücher