Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
neben dem ein kleiner Salon liegt. Christian Straff ist froh, die unheimliche Begegnung hinter sich zu haben. Er denkt an Jürgen, an die Mutter des Jungen, verläßt mit schnellen Schritten die Brücke, gerät in ein Rudel Passagiere, kommt nicht voran, denkt wieder an den Alten.
Was ist los? überlegt er. Und die Briefe? Was will er? Woher dieser starre Blick, dieses seltsame Flackern? Er benimmt sich, als ob er einen Entschluß gefaßt hätte, der nur noch zu vollstrecken ist.
Christian Straff sieht ihn noch einmal vor sich, wie er mit schleppenden, ergebenen Schritten in sein Schlafzimmer geht, als verließe er die Welt für immer.
Plötzlich ist der Verdacht da!
Natürlich, denkt Straff, er ist ein kranker Mann, er sieht nicht mehr weiter.
Rücksichtslos wuchtet er auf die Brücke zurück, mit langen, schnellen Sätzen, alle beiseite stoßend, die ihm im Weg stehen.
Gerade als er die Brücke erreicht, fällt der Schuß …
Seit die ›Cap Arcona‹ aus dem Hafen von Gotenhafen ausgelaufen war, zu ihrer traurigsten Fahrt, kam sich Kapitän Gerdts vor wie ein Toter auf Urlaub. Er stand auf der Kommandobrücke, leicht vornübergebeugt, starr, stumm. Er hatte die Lippen aufeinandergepreßt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt; seine Augen, die den Horizont absuchten, waren wie blind. Er sah zur grauen Kaimauer hin, er sah über die weite See, in der blau-giftig das Packeis trieb. Die ›Cap Arcona‹ war kein Schiff für Eisschollen; sie hatte nichts in der salzarmen Ostsee, die das Gefrieren ermöglicht, zu suchen.
Die ›Cap Arcona‹ sollte ihrer Bestimmung gemäß zwischen Hamburg und Rio verkehren, so wie sie Kapitän Gerdts, der charmante Plauderer, der gewandte Tänzer, dieser Zaubermeister des Luxus, schon über ein dutzendmal hin- und hergefahren hatte.
Heute sah er kein Lachen, keinen Glanz, kein Glück. Es heulten keine Sirenen, als das Fallreep eingefahren wurde. Die Bohlen und Bretter polterten wie eine Drohung. Vom Ufer her winkten keine Hände; der Kapitän glaubte Fäuste zu sehen. Auf den breiten Planken des Decks spielte keine Musik, während sich der graue Gigant langsam vom Ufer löste und sanft von der Kaimauer glitt.
Die ›Cap Arcona‹ war sein Schiff, aber es gehörte ihm nicht mehr. Die Zeit hatte es ihm gestohlen; die Zeit hatte es alt und der Krieg häßlich gemacht.
Wo sich Damen in der Robe und Herren im Frack im wilden Takt südamerikanischer Rhythmen gedreht hatten, lagen verlauste Strohsäcke. Im 600 Quadratmeter großen Speisesaal gab es nichts mehr zu essen, es fehlten die blühenden Pflanzen und die Gobelins an den Wänden. Statt dessen hing das Bild des Mannes, dem die 10.000 Elendspassagiere alles verdankten, an der Wand: hochgeschlagener Mantelkragen, gepflegter Schnurrbart, kitschblaue Augen, Führertolle …
Das Bild hängt beinahe in jedem Deck, befehlsgemäß, und wohl als Ersatz für Essen, Schlaf, Sicherheit, Ruhe und Freude. Weil dieser Mann die eigentliche Führung des Schiffes an sich gerissen hatte, konnte sich Kapitän Gerdts mit dem Leben nicht mehr zurechtfinden. Er sah das 10.000fache Elend auf Millionenebene. Er sah, was mit den Menschen geschah, die nicht an Bord der ›Cap Arcona‹ gekommen waren. Er fürchtete, was mit den Passagieren geschehen könnte, die ihm anvertraut waren. Er sah den Zusammenbruch Deutschlands, des Landes, das er immer geliebt hatte, weltoffen und frei.
Er sah auch die Augen des Arztes wieder, der ihm nach einer langen, ernsten Untersuchung die Diagnose gestellt hatte, und er überhörte die harmlose Erklärung – las die Endgültigkeit seiner Krankheit aus dem Gesicht Dr. Corbachs, der ein guter Arzt und ein schlechter Lügner war. Und Kapitän Gerdts spürte, wie die gemeine, schleichende Krankheit seine Zellen zersetzte, und er fühlte sich zu alt und zu verbraucht, um sich gegen den Tod zu stemmen.
Deshalb wollte er in den Tod flüchten.
Kapitän Gerdts hatte die Abschiedsbriefe geschrieben und die Waffe geladen, als überraschend der Befehl an die ›Cap Arcona‹ ging, das Riesenschiff bis zum letzten Winkel mit Flüchtlingen zu beladen und nach Schleswig-Holstein zu bringen. Der müde, einsame Mann auf der Kommandobrücke spürte in einem letzten Aufflackern seiner Vitalität, daß er vor seinem Tod noch eine Pflicht hatte. Und er kam ihr nach, selbstverständlich, angespannt … und glückhaft. Aber die Landung der 10.000 Menschen in der Neustädter Bucht sollte mit dem Tod ihres Retters
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