Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Meinung von seinem Ausgang.
Aber dann, als dieser Goldfasan mit dem roten, zuckenden Gesicht, daranging, die Kirche zu beleidigen und Gott zu verspotten, konnte sich Georg Fährbach nicht mehr zurückhalten, erwachte der alte Michael Kohlhaas in ihm, der Mann, der kein Unrecht schlucken konnte.
Er bedachte nicht die Folgen.
Er vergaß sogar, daß er keineswegs ein religiöser Mensch war und daß er in einer Art Ritterlichkeit hier nur für Leute eines Glaubens eintrat, den er nicht mit ihnen teilen konnte; er mochte nur nicht, daß ein betrunkener Kriegshetzer Dinge in den Dreck zerrte, die anderen heilig waren.
So trat er in dem überfüllten Saal an den stumpf glotzenden Hoheitsträger heran, dem das Wort im Hals steckenblieb, ging geradewegs auf das Pult mit der Hakenkreuzfahne zu, holte aus; er, der Ehrengast, der dekorierte Kriegsheld, schlug den zweiten Mann der Gauleitung zwei-, dreimal mit äußerster Wucht in das Gesicht.
Es war ein Skandal, wie er selten vorkam.
Die meisten waren starr, obwohl sie diesen aufrechten, draufgängerischen Marineoffizier in diesem Moment am liebsten umarmt hätten. Ein paar klatschten, andere lachten.
Eine knappe Stunde später wurde Georg Fährbach verhaftet. Er kam vor ein Kriegsgericht, lieferte sein Ritterkreuz ab, zog die Uniform aus, wurde zunächst zum Schützen degradiert, später aus der Wehrmacht ausgeschlossen, nur zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, obwohl die Partei darauf drängte, daß er hingerichtet werde. Die Wehrmacht steckte Fährbach in ein Strafgefängnis, schützte ihn noch, ohne es zuzugeben, und dann …
»Und dann?« fragte Christian Straff.
»Dann geschah das Schlimmste.« Marion sieht auf den Boden. Sie hatte sich so daran gewöhnt zu schweigen, daß es ihr nicht leicht fällt, die Mauer der Angst zu durchstoßen.
Der Funkoffizier will ihr Zeit lassen. Er braucht sie selbst. Er ist erschüttert, denn an ihn waren die Briefe zurückgekommen mit dem Vermerk: »Vermißt.« An Marion hatte er nicht geschrieben, weil er Angst hatte, mit seinen Fragen Höllenstein auf eine offene Wunde zu legen.
So sitzen sie da, im Lazarettdeck, während 10.000 Menschen langsam ausgeschifft werden in Dutzenden von kleinen Fahrzeugen. Schließlich ist Christian Straff dem Läufer fast dankbar, der ihn auf die Brücke ruft …
Der Mann trägt Zivil. Er hat eine blasse Hautfarbe, starre Pupillen, farblose Haare. Er spannt die Oberlippe wie eine Waffe. Wenn er droht, grinst er, wenn er lacht, droht er.
Es ist genau der Typ, der Christian Straff vom ersten Moment an unsympathisch ist. Er spricht nicht, er befiehlt, und er läßt keinen Zweifel darüber, welche Macht er in der Hand hat. Er kommt von der SD-Außenstelle in Lübeck, ist Sturmbannführer und hat es deshalb nicht nötig, sich vorzustellen oder dem Funkoffizier Platz anzubieten. »Sie heißen Straff?« fährt er ihn an.
Christian nickt, betont zivil. Noch weiß er nicht, wer dieser Mann ist, aber er ahnt, wer hinter ihm steht.
»Sie waren also der letzte, der mit Gerdts, diesem Defätisten, gesprochen hat?«
»Meines Wissens ja«, versetzt der Funkoffizier.
»Es ist Sabotage … ich rieche das … Maschinen kaputt, der Kapitän …«, er macht eine Handbewegung, »ich hätte gute Lust, ein Exempel zu statuieren.«
»Tun Sie es doch«, sagt Christian Straff mit aggressivem Hohn.
»Sie wissen wohl nicht, wen Sie vor sich haben?«
»Es ist mir wurscht.«
»Ich bin der Sturmbannführer.«
»Von mir aus.«
»Sie sind ja einer von diesen Burschen hier, die sich mit dieser Sabotage …«
»Ich bin einer von diesen Burschen«, erwidert Christian Straff, »dem Sie den Buckel herunterrutschen können.«
»Mann«, brüllt der Beamte der SD-Außenstelle Lübeck, »ich lasse Sie verhaften! Erschießen!«
Der Leitende Ingenieur, der Erste Wachoffizier und Dr. Corbach, die im Hintergrund stehen, betrachten den Funkoffizier beinahe flehend. Aber Christian Straff spürt nur Zorn, denkt an Georg. An Georg, der mutig genug war zuzuschlagen.
Christian Straff spürt, wie es in seinen Fäusten zuckt.
Der SD-Mann stutzt unsicher, weil er zum erstenmal seit langem wieder einem Menschen gegenübersteht, der ihn nicht fürchtet. Während das Duell der beiden stumm weitergeht, schaffen ein paar Matrosen auf einer bedeckten Bahre den Kapitän Gerdts von Bord, der sich selbst getötet, den aber die Zeit gemordet hat.
Ein Mädchen in Uniform, vielleicht zwanzig Jahre alt, ein hübsches, billiges Ding, rettet
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