Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Moment wird ihr Gesicht starr vor Unglauben. Dann taut es auf, ganz rasch, wird weich, hell vor Glück.
Sie preßt den Jungen an sich, Tränen schießen ihr aus den Augen, sie sieht nichts, sie spürt nur das Wunder, an das sie letztlich glaubte, und sie fühlt, daß alle Ängste und Strapazen hundertfach belohnt wurden, und sie spürt, wie sehr ihre Knie schwanken und daß die Umstehenden auf einmal alle ihre Teilhaber sind, die schlucken, sich über die Augen fahren oder verkrampft wegsehen wie dieser Bursche mit den struppigen Haaren, der sich wohl des Jungen angenommen hat und jetzt flüchtet, bevor sich Marion Fährbach noch bedanken kann.
»Sie sind noch schwach, Frau Fährbach«, sagt Dr. Corbach, der immer da ist, wenn etwas passiert, »es dauert mindestens vierundzwanzig Stunden, bis wir alle Passagiere an Land geschafft haben … Bleiben Sie so lange hier im Lazarettdeck, ruhen Sie sich aus … Wir machen Platz für den Jungen.«
»Mutti … Hunger«, ruft Jürgen.
Die Umstehenden lachen.
»Kriegen wir gleich«, sagt der Schiffsarzt. Während er Anweisung gibt, kommt ein Läufer von der Kapitänsbrücke.
»Es ist etwas … etwas Furchtbares geschehen, Herr Doktor …«
»Wo?« fragt Dr. Corbach.
»Bitte kommen Sie … in die Kapitänskajüte …« Der Mann sagt die letzten Worte fast flüsternd.
Während der Arzt geht, sieht er Marion und den Jungen, und erlebt einmal mehr, seit er den weißen Kittel trägt, wie verdammt nah Leben und Tod miteinander auf Tuchfühlung sind …
Funkoffizier Christian Straff und ein Zivilsteward waren als erste bei Kapitän Gerdts. Straff beugt sich über ihn, legt ihn behutsam auf sein Bett, sieht die Wunde in der Schläfe, den gebrochenen Blick, das versickernde Blut und hofft zwecklos, daß er seinen Augen nicht trauen darf.
»Dr. Corbach!« fährt er den Steward an. »Sofort, Mann! Was stehen Sie herum? Holen Sie den Doktor, verdammt!« Er sieht den Rudergänger in der Tür. »Lassen Sie niemand herein!« sagt er zu ihm. »Kein Wort zur Besatzung!«
Die Briefe in seiner Brusttasche scheinen zu brennen. Ich hätte es wissen müssen, denkt Christian Straff, ich hätte es merken sollen. Ich habe geschlafen. Ich war gedankenlos und stupide. Ein Wort mehr und eine Geste, und der Alte hätte das nicht getan, bestimmt nicht. Kurzschluß war es, nichts weiter …
Er betrachtet seinen Kapitän. Der Tod ist nie schön, am wenigsten bei einem Menschen, dem man nahestand. Er denkt an die Güte, an den Witz dieses Mannes, an seine Sicherheit, an seine Zivilcourage, und er merkt betroffen, daß er schon Abschied nimmt, während er noch immer auf ein Wunder Dr. Corbachs hofft.
Endlich kommt der Arzt, klein, ein Gelehrter in Uniform, mit dem scharfen Blick des Intellektuellen hinter der randlosen Brille. Er nickt Christian Straff verbissen zu.
»Tot?« fragt der Funkoffizier.
»Natürlich«, erwidert der Arzt. Seine Schultern hängen durch wie schlaffe Taue. »Ich habe es befürchtet«, sagt er, während er ein Taschentuch nimmt, die Schläfe damit abwischt und ganz behutsam, als könnte er seinem Kapitän noch weh tun, die Lider herunterdrückt und dann eine Decke über ihn legt.
»Es war zu viel für ihn«, sagt Dr. Corbach, »und vielleicht ist es auch …« Den Rest der Worte umschließt eine harte Geste seiner Hand.
Luft, denkt Straff, Ruhe, Nachdenken, Zeit. Sein ganzer Körper ist klamm. Seine Schritte sind steif, als er zur Funkbude zurückgeht. »Na, die Mutter hätten Sie sehen sollen, Kaleu!« empfängt ihn Funkmaat Möhrenkopf lärmend. »Hier …«, er hält ihm ein gefülltes Glas mit Fusel hin, »nehmen Sie mal 'nen Schluck auf das Familienglück, Kaleu.«
Christian Straff hört es nicht.
»Was ist denn los?« fragt der Maat betroffen.
»Der Alte hat sich erschossen.«
»Was?« fragt Möhrenkopf und braucht ein paar Sekunden, um die Worte seines Chefs zu erfassen, trinkt das Glas aus, knallt es gegen die Wand, flucht. Es hört sich an, als ob seine Stimme heulen würde. »Paßt ja prima«, sagt er in grimmiger Trauer, »Kapitän tot … Maschine kaputt … und wir wieder hinaus.«
Christian Straff greift mechanisch nach der Flasche, nimmt ein paar Schluck, schiebt angewiderten Gesichts den Schnaps weg. Schnaps schmeckt nach Blut, wenn man von einem Totenbett kommt.
»So einen prima Alten kriegen wir nie wieder«, heult der Möhrenkopf neben ihm, »aber wir brauchen auch keinen mehr … zum Absaufen und Verrecken ist jeder gut, was
Weitere Kostenlose Bücher