Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
zusammenfallen.
Gerdts hatte es sich leicht vorgestellt, erlösend, und es wurde ihm viel schwerer, als er gedacht hatte. Neben Dr. Corbach, seinem alten Schiffsarzt, stand ihm Christian Straff, der junge Funkoffizier, am nächsten. Deshalb hatte er ihn von der Kriegsmarine angefordert, deswegen ließ er ihn immer wieder und auch grundlos zu sich rufen. Ihm gab er die Abschiedsbriefe, die die Polizei nicht zu lesen brauchte. Der Funkoffizier sollte auch der einzige bleiben, von dem sich sein müder, todkranker Kapitän verabschieden wollte. Als er ihm gegenüberstand, spürte Gerdts, wie schwer ihm alles fiel. Er mußte Straffs Blick ausweichen. Er brauchte Sekunden, um seiner Stimme wieder sicher zu sein. Er legte die Hand auf die Schulter des jungen Seeoffiziers, und er wollte ihn an sich ziehen, und er spürte auf einmal, daß er noch lebte und nicht bloß ein Toter auf Urlaub war. Er merkte, daß eine Versuchung nach ihm griff, und er sah auch, daß Christian Straff verwundert war und über die seltsame Stimmung des Alten nachzudenken begann.
Gerdts wollte den Funkoffizier wegschicken und hielt ihn zurück. Noch eine Minute Leben, noch 60 Sekunden Versuchung, noch ein Blick, noch ein Wort, noch einmal die Zuneigung dieses Jungen spüren, der schon im Frieden als dritter Vierter auf der ›Cap Arcona‹ gefahren war. Er wollte ihm noch einmal die Hand geben, aber er schaffte es nicht.
Kapitän Gerdts drehte sich um und ging in sein Schlafzimmer. Er stand vor seinem Bett. Darüber hing ein Spiegel. Der alte Kapitän betrachtete sich und erschrak ein letztes Mal. Er sah seinen erloschenen Blick, seine tiefliegenden Augen, sein zerfurchtes Gesicht. Er begegnete im Spiegel seinem Mörder, der Krankheit, und er wußte, daß es falsch und ein Frevel war, Schluß zu machen. Aber er dachte an den Zusammenbruch seines Landes, an den widerlichen Kerl mit dem Schnurrbart, an die erschrockenen Augen Dr. Corbachs, an den Argwohn Christian Straffs.
Er griff mit unsicherer Hand unter das Kopfkissen, wo die Waffe lag. Er umschloß sie mit seiner Hand, hob langsam, als sei alles zu schwer, den Arm, dachte an die Briefe, die Christian besorgen würde, wunderte sich ein letztes Mal, wie immun der Funkoffizier als einziges Besatzungsmitglied gegen den Würgegriff der Zeit war. Dieser Straff war kaum älter geworden, und er ignorierte den Krieg, den Dreck und den Tod. Während der Krieg viele Menschen zu Tieren machte, war Christian ein Herr geblieben, dachte Kapitän Gerdts, gepflegt, adrett, männlich … und vielleicht mag ich ihn so, weil er mich an die Zeit zwischen den Kriegen erinnert, in der ich glücklich sein durfte und lachen konnte, in der im Ozean keine Unterseeboote lauerten und keine Treibminen schwammen.
Eine Zeit, in der die ›Cap Arcona‹ im Dienst des Lebens fuhr, des Lachens, des Lichts, der Liebe und nicht als ein siecher Kasten, an den sich die Panik mit hunderttausend Händen krallt.
Kapitän Geräts drückte mit dem Zeigefinger langsam den Hahn durch.
Als sich der Knall an den Wänden brach, fiel er vornüber, mit dem Gesicht auf das Bett.
So fanden ihn Sekunden später die ersten Mitglieder seiner Besatzung, unter ihnen Christian Straff.
Fast im gleichen Moment, da im Schlafzimmer der Kapitänskajüte ein verzweifelter Mensch stirbt, schlägt im Lazarettdeck das Leben einen Salto.
Möhrenkopf, der Funkmaat, wartet nicht mehr auf die Rückkehr Straffs, seines Offiziers. Er nimmt den kleinen übermütigen Jürgen an die Hand und sagt: »Auf, zur Mutti!« Er verläßt mit dem Jungen die Funkbude, nimmt ihn auf den Arm und zeigt ihm, wie die ersten Passagiere auf kleine Boote verladen werden. Einen Augenblick ist die kindliche Neugier größer als das Verlangen nach der Mutter.
»So viele Boote … ich will auch Boot fahren.«
»Später, mein Sohn«, sagt Möhrenkopf, streicht dem Jungen über die Stirn und wird rot, weil ausgerechnet der Erste Ingenieur, dieser kalte Hund, ihm dabei zusieht.
Er setzt den kleinen Jürgen wieder ab und geht jetzt ohne Umweg in das Lazarettdeck. Er rückt sich ein wenig in Pose; schließlich wird er Glück und Dank einer Mutter entgegennehmen, und ein wenig bange ist ihm auch, weil es ihm an die Nieren geht und weil diese verdammte Zeit einem Mann vorschreibt, keine Gefühle zu haben.
Dann ist alles viel leichter. Jürgen Fährbach sieht seine Mutter, reißt sich los und springt lachend auf sie zu.
Marion Fährbach erkennt ihn an seiner Stimme, fährt herum. Einen
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