Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Spritzen in den Tod schickte, wie er den grünen Kapo umlegte, die rauchende Pistole einsteckte und mit fahlem Grinsen stolz kommentierte: »Blattschuß, von hinten durch die Brust ins Herz.« Er sieht jetzt diesen flehenden, hilflosen, heulenden Hauptscharführer, sieht das Zögern seines Kameraden Gladon, sieht die anderen Verwundeten, bei denen vielleicht weniger zu machen ist als beim Vogelkopf – und da überwältigt ihn der Haß ein letztes Mal.
»Lass dieses Schwein verrecken!« zischt er den Engländer an und zieht einen hilflosen Häftling vom glühenden Rost.
Die Überlebenden an Oberdeck sind, seit sie die Flucht der Totenkopfleute verfolgten, nicht mehr zu halten. Einige springen über Bord und landen mit zerschmetterten Köpfen am Schlingerkiel. Plötzlich kommt ein Holländer auf eine Idee, reißt ein paar Leute mit, noch einmal zurück in den Speisesaal, in den Rauchsalon, in das Kinderzimmer, in die Bar, in den Musiksaal. Und was diese ausgemergelten Gestalten tragen können an hölzernem Mobiliar, schleppen sie nach oben.
Die Schwimmwesten, mit denen noch Hunderte von Menschen zu retten wären, hatte gestern SS-Sturmbannführer Langenfritz wegen Fluchtgefahr wegnehmen lassen. Sie sind verbrannt. Vielleicht halten Schränke, Tische, Bänke und Stühle die Schiffbrüchigen so lange über Wasser, bis Rettung vom Ufer her kommt, das die Engländer längst besetzt haben.
Einer beginnt. Die anderen folgen ihm in blinder Panik.
»Seid ihr verrückt«, brüllt Maat Möhrenkopf, der seinen Kaleu Christian Straff noch immer am Tau hat.
Der Sturm geht über ihn hinweg.
Bänke, Schränke und Tische kullern nach unten wie Fallobst, schwere, massive Holzstücke. Sie fallen an Straff vorbei, der die Schneidezähne in die Unterlippe bohrt und zusieht, wie die plumpen Möbelstücke nach unten prasseln und alle erschlagen, die hilflos im Wasser treiben.
Keiner hört ihre Schreie, sieht ihre Angst.
Jutta, denkt der Funkoffizier und sieht den schweren Schrank, zwei, drei Meter, bevor er aufschlägt, wie gezielt auf das Kopftuch.
Christian Straff läßt das Seil los und springt nach unten.
Von Jutta ist nichts mehr zu sehen.
Er sucht und sucht.
Endlich haben sie an Oberdeck das Bombardement eingestellt …
Der Häftling Nummer 8.773, der für seine Kameraden von der ›Cap Arcona‹ Hilfe holen sollte, der frühere Kaleu Fährbach, trieb jetzt schon eine Stunde im Wasser und war am Ende. Er hatte die Richtung gehalten, so gut es ging. Aber er konnte nicht mehr. Die Strömung trieb ihn ab, hin und her, nach vorne und zurück. Seine Schwimmweste trug ihn nicht mehr, sie hatte Luft verloren, und er mußte nachhelfen.
Er lag auf dem Rücken. Er ergab sich. Die Wellen peitschten ihn nicht mehr, sie wiegten ihn sanft in den Tod. So schön ist das, dachte er mit verdämmernden Sinnen, so leicht, so einfach?
Er treibt auch nicht mehr in der Bucht von Neustadt, er ist zu Hause. Marion sitzt neben ihm, so nahe, daß er den Duft ihrer Haare riechen, in ihre dunklen glänzenden Augen sehen, ihre hübschen, brünetten Haare streicheln kann. Er sieht ihren Mund und hört ihre Stimme, die er am meisten an ihr liebt. Oder die Augen? Oder die Haut? Er weiß es nicht. Er mag alles an Marion. Er liebt sie.
»Komm …«, sagt sie leise und erhebt sich. Und es sind wieder Flitterwochen, die nie enden würden, nie …
Georg Fährbach ist in eine Gruppe Schiffbrüchiger getrieben. Lebende neben Erschöpften, Ertrinkende neben Toten. Am gefährlichsten sind die Männer kurz davor. Sie klammern sich an die anderen, an die Kräftigeren, ziehen sie mit hinab.
Fährbach ist hellwach. Weg von denen, sagt er sich. Keinen Kampf mehr, ich bin zu erschöpft, und gleich ist die letzte Luft aus dieser verdammten Schwimmweste, und …
Er ist noch vier, fünf Meter weg. Er ergibt sich nicht. Er kämpft wieder und sieht in diesem Moment ein Schlauchfloß der Kriegsmarine, vermutlich von einem Schiff ausgeschickt, um Überlebende aufzufischen.
Es ist beladen bis obenhin.
Georg Fährbach sieht das Rudel der Schiffbrüchigen, die sich mit letzter Kraft an die Schlaufen hängen, die das Schlauchboot nach unten ziehen müssen. Er sieht, wie die Retter und Geretteten mit langen Stangen auf die Häftlinge im Wasser einschlagen, auf ihre Köpfe. Es ist schauerlich, unmenschlich, aber es bleibt ihnen keine andere Wahl. So wenigstens können sie die Menschen im Schlauchboot retten, während sonst alle ertrinken müßten.
Georg winkt ihnen
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