Für alle Fragen offen
Nonkonformismus geradezu verkörperte, und dies elf Jahre lang, einen solchen Deutschen kannte man vor ihm, Wolf Biermann, nicht.
Bevor sein erster Gedichtband gedruckt wurde (1965 in West-Berlin), war er, der Bürger der DDR, schon ein berühmter Dichter,
einer, dessen Verse in seiner Heimat von Hand zu Hand gingen: auf Tonbändern und in unzähligen Abschriften. Er wurde in der DDR – wie er selbst sagte – »zum staatlich anerkannten Staatsfeind mit Maulkorb«. So entstand der Biermann-Mythos.
Er hatte damals Angst vor dem Gefängnis, aber die Angst hatte nicht ihn. Dichtend und komponierend riskierte er seine Freiheit, ja seine ganze Existenz. Zugleich verdankte er seiner Poesie, dass er schließlich siegen konnte.
Es gab gestern und es gibt heute in Deutschland und anderswo bedeutendere Lyriker und originellere Komponisten, es gab und gibt bessere Sänger und Gitarristen. Selbstverständlich. Nur lässt sich Biermann weder einordnen noch auf ein Fach festlegen. Man kann ihn nicht etikettieren, er sprengt jeden Rahmen. Er ist ein militanter Musiker und ein fröhlicher Volksredner, ein Prediger und ein Pamphletist, er ist ein Conferencier und ein Kabarettist, ein Schalk und ein Showmaster.
Es ist jetzt still um Biermann geworden, aber sein letzter Band ( Heimat ) enthält wieder wichtige und schöne Gedichte. Seine Verse werden manche Dichter, die heute so gern gelobt werden, überleben.
Was bedeuten Ihnen die Bücher von Thomas Bernhard, und wie ist seine Erzählkunst zu beurteilen?
Thomas Bernhards erstes Buch, der Roman Frost , erschien 1963. Ich las es mit gemischten Gefühlen. Ich war fasziniert, gewiss, aber in noch höherem Maße irritiert. Ein ganz großes Talent? Ich war meiner Sache nicht sicher. Und ich meine, dass ein Kritiker, der sich nicht entscheiden kann, seine Unsicherheit mit sich selbst ausmachen muss und erst dann vor das Publikum treten darf, wenn er glaubt, klar sagen zu können, was seiner Ansicht nach hier gespielt und wie es gespielt wird.
Beim nächsten Buch Bernhards, der Erzählung Amras (1964), stand ich vor demselben Dilemma. Und wenn ich mich heute frage, was mich damals gehindert hat, über ihn zu schreiben, drängt sich mir ein Wort auf: Angst. Ich fürchtete, seiner Prosa nicht gewachsen zu sein. Wie ich viele Jahre gezögert habe, mich über Kafka zu äußern, so entzog ich mich vorerst auch den Büchern Bernhards.
Das änderte sich schnell: Als ich 1965 in der Neuen Rundschau seine nicht lange Erzählung Der Zimmerer gelesen hatte, war mein
etwas zwiespältiges Verhältnis zu dem jungen österreichischen Autor überwunden. Dieses Prosastück berührte und beeindruckte mich mehr als Frost und Amras , nun meinte ich, meiner Sache ganz sicher sein zu können. Ich nahm den Zimmerer in meine noch im selben Jahr erschienene Anthologie Erfundene Wahrheit – Deutsche Geschichten seit 1945 auf. Übrigens habe ich diese Erzählung in einer späteren Ausgabe der Anthologie gegen eine andere von Thomas Bernhard ausgetauscht, die mir noch bedeutender erschien, gegen Die Mütze.
Zugleich war ich entschlossen, mich mit seinem nächsten Buch kritisch auseinanderzusetzen. 1967 publizierte er den Roman Verstörung , dem dann rasch seine kleine, doch gewichtige Sammlung Prosa folgte. Hatte ich jetzt keine Angst mehr vor Bernhard? War ich nun seinem Werk gewachsen? Nein, natürlich nicht. Aber es fragt sich, ob man ihm überhaupt gewachsen sein kann. Goethe sagte 1827 zu Eckermann: »Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.« Hat Goethe dies wörtlich gemeint? Vielleicht wollte er nur sagen, dass das Inkommensurable und für den
Verstand Unfassliche dem Autor und seiner Dichtung sehr wohl zugutekommen kann.
In jeder Hinsicht spürte und wusste Bernhard ungleich mehr, als er in Worten auszudrücken imstande war. Eben deshalb konnte er ausdrücken, was sich in seinen Büchern findet. Ich habe es nie für meine Aufgabe oder auch nur für möglich gehalten, den Fall Bernhard gänzlich zu klären. Was ich im Sinn hatte, war nichts anderes als eine Annäherung – und diese konnte stets nur bedingt gelingen. Seine Prosa ließ sich nicht durchschauen: Sie blieb auch dann, wenn er scheinbar unbeschwert und munter erzählte, unheimlich und beklemmend. Und je besser ich sie zu verstehen glaubte, desto mehr beunruhigte und irritierte sie mich.
Von manchen unserer Schriftsteller ließe sich sagen: Er ist einer von uns – also von uns, den
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