Für alle Fragen offen
Unterhaltung zweier alter Männer über die Konzerte im Warschauer Getto. Szpilman hatte nichts vergessen.
Welche Lektüre empfehlen Sie für ein zwölfjähriges und ein neunjähriges Mädchen, die sie an die Tiefe und den Reichtum guter und tiefer Literatur heranführen könnte?
Sie wenden sich an eine falsche Adresse. Denn ich bin Literaturkritiker. Bücher für Kinder sollten Pädagogen empfehlen, zumal Deutschlehrer. Kurz: Ich bin nicht zuständig. Aber Sie sollen nicht ganz leer ausgehen.
Als ich etwa elf oder zwölf Jahre alt war, entdeckte ich einen deutschen Autor, dessen Bücher sich für Kinder nicht eigneten. Doch eine kluge Berliner Verlegerin schlug ihm vor, es einmal mit einem Kinderroman zu versuchen. Er war nicht gerade begeistert, er sagte mürrisch, Romane für Kinder – das habe es bisher nicht gegeben. – »Eben deshalb sollten Sie so etwas machen.« Der Autor hieß Erich Kästner, schrieb innerhalb von wenigen Wochen einen Kinderroman, der ein Welterfolg wurde. Der Titel des Buches: Emil und die Detektive .
Kästner liebte das Spiel mit vertauschten Rollen. Er hielt es oft für richtig, die Leser seiner Essays und Artikel so zu behandeln, als
wären sie noch Kinder. Und er nahm die Leser seiner Kinderbücher immer so ernst, wie Erwachsene behandelt werden wollen.
Auch Kästners Romane für Kinder sind zunächst und vor allem poetische Plädoyers für die Vernunft in den Zeiten der Unvernunft. Doch diejenigen, die in diesen Büchern die Welt vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus beurteilen, die sich als Sachwalter der Vernunft und der Ordnung erweisen, das sind eben nicht die Erwachsenen, sondern die Kinder und die Halbwüchsigen. Sie verfolgen und fassen den Dieb und stellen so die Ordnung wieder her.
»Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie genau so, wie sie berichtet wurde, wirklich hätte passieren können« – erklärte Kästner in der Einleitung zu einem seiner Bücher. Wenn die Kinder die besten seiner Bücher als wahr empfanden, so unter anderem deshalb, weil in diesen Büchern meist Milieus gezeichnet wurden, die diese Kinder selbst kannten, die ihnen vertraut waren.
Statt der in der Kinderliteratur bevorzugten Exotik zeigte Kästner die unmittelbare Umwelt seiner Leser. Er ließ seine Geschichten nicht in der Antike oder im Mittelalter spielen,
sondern in der Gegenwart. Ihre Helden waren nicht Winnetou oder Lederstrumpf, Ben Hur oder Sigismund Rüstig, sondern gewitzte Kinder und Halbwüchsige aus der modernen Großstadt. Was sich in Emil und die Detektive ereignet, passiert vor allem in den Straßen und in den Höfen Berlins.
Neben der außergewöhnlichen Beobachtungsgabe und dem verschmitzten und ironischen und gleichwohl auch für Kinder immer verständlichen Humor hat zur Glaubwürdigkeit und damit zum Erfolg des Emil die Reizbarkeit Kästners für die Sprache viel beigetragen.
Ähnlich wie Döblin in Berlin Alexanderplatz , wie Horváth in seinen frühen Stücken, wie Fallada in seinen besten Romanen und Tucholsky in seinen treffendsten Feuilletons hat auch Kästner das alte und immer wieder bewährte Rezept befolgt: Er hat dem Volk aufs Maul geschaut. Er hat, wie keiner vor ihm, die Alltagssprache der Großstadtkinder belauscht und fixiert.
So gesehen war das Buch nichts anderes als die längst fällige Hinwendung der Literatur für Kinder ebenso zu realistischen Ausdrucksmitteln wie zur überprüfbaren Realität. Das
entsprach jener damals dominierenden Richtung, für die es nur eine verschwommene und fragwürdige und dennoch nicht überflüssige Bezeichnung gibt: Emil und die Detektive – das ist der Kinderroman der Neuen Sachlichkeit.
Sie haben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen liebevollen Text über den verstorbenen Dichter Peter Rühmkorf geschrieben. Er aber hat sich in seinen Tagebüchern mitunter kritisch über Sie geäußert. Haben Sie einmal mit ihm darüber gesprochen? Oder ist Ihnen Kritik von Schriftstellern nicht so wichtig?
Was Schriftsteller über meine Kritiken denken, ist mir keineswegs gleichgültig. Dass Peter Rühmkorf sich bei verschiedenen Gelegenheiten kritisch über mich geäußert hat, trifft zu. Bei anderen Gelegenheiten aber hat er sich sehr freundlich geäußert. Zum ersten Mal habe ich ihn 1959 in Hamburg getroffen. Ich habe ihn schon damals, Ende der fünfziger Jahre, sehr geschätzt: als glänzenden Gesprächspartner, als gründlichen Kenner der Literatur und – vor allem natürlich – als originellen
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