Für alle Fragen offen
allerdings konnte mir nichts helfen, nichts mir den Fall klären – bis ich schließlich eine Kritik des großen Alfred Kerr aus dem Jahre 1908 fand. Zu meiner Überraschung und Freude las ich über den Lear : »Dieses Werk ist mir auf der Bühne heute fast unerträglich, mit den Kinderplumpheiten, den dicken Häufungen, die es neben der Größe zeigt.« Damit war der Fall König Lear für mich erledigt – so schien es mir.
Nach dem Krieg habe ich das Stück mehrmals gesehen, in verschiedenen Sprachen.
Allmählich hörte das archaische Märchen auf, mir gleichgültig zu sein. Ich begann die Gründe seines Ruhmes zu verstehen. Warum hatte sich mein Verhältnis zu diesem Drama mit den Jahren deutlich geändert? Ich wusste es nicht – bis mir ein spätes Gedicht Goethes aufgefallen ist. Es beginnt mit den Worten: »Ein alter Mann ist stets ein König Lear!« Als Goethe dies schrieb, war er achtundsiebzig Jahre alt, als ich es in seinen Werken fand, war ich neunundsiebzig.
Muss man alt werden, um den Lear zu begreifen, zu bewundern?
Wie beurteilen Sie den Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann?
Er war ein unzurechnungsfähiger Poet. Aber er war ein Poet. Von Anfang an ging er aufs Ganze: trotzig, radikal und rücksichtslos. Sein erstes Buch ( Die Umarmung , 1965) schildert »etwas unvorstellbar Gemeines, Viehisches«. Nämlich unser Leben. Das Buch beginnt mit einem Tod, erreicht seinen Höhepunkt mit der Beschreibung eines Koitus und endet mit einer Geburt. Hier lehnte sich ein noch junger Autor mit Wut und Besessenheit gegen die biologischen Gegebenheiten des Daseins auf.
Aber so konsequent er seinen Abscheu artikulierte, so wenig wollte er verheimlichen, dass er zugleich fasziniert war: Dem ratlosen und verzweifelten Protest entspricht eine widerwillig-leidenschaftliche Zustimmung. Dieses zwiespältige Verhältnis zur Realität wurde am deutlichsten in der schonungslosen, scheinbar kühl-sachlichen Darstellung des Sexuellen.
Einem Sexroman verdankte Brinkmann seinen Platz in der deutschen Nachkriegsliteratur: dem Roman Keiner weiß mehr (1968). Es ist ein trotzig hingeworfener Brocken Prosa, kühn und schonungslos. Eine Liebesbeziehung
wird dargestellt, eine Ehekrise wird analysiert. Aber vor allem liefert der Roman das psychologische Porträt eines Intellektuellen der (damals) jungen Generation.
Die Verwirrung, an der er leidet, die Abhängigkeit, die er überwinden möchte, seine Hast und Müdigkeit, alle diese Zustände, die der Roman in Nahaufnahmen und Momentbildern fast überscharf verdeutlicht, haben ihren gemeinsamen Ursprung im Sexuellen. Dieser junge Erzähler wusste sehr genau, worauf es bei der Darstellung des Sexuellen in der Literatur ankommt: Es gelang ihm immer, die Beschreibung der physischen Vorgänge mit der Wiedergabe ihrer psychischen Voraussetzungen, Begleitumstände und Reaktionen zu ergänzen und zu synchronisieren.
1975 wurde Brinkmann in der Innenstadt von London auf der Straße überfahren. Die deutsche Literatur war um eine Hoffnung ärmer.
Ich habe von Ihnen erfahren, wie viel die Literatur zu leisten vermag, insbesondere wie viel Trost, Hoffnung und Lebensmut sie einem persönlich geben kann. Kann sie dem Leser auch die Angst vor dem Tod nehmen? Welchem Schriftsteller ist dies besonders geglückt?
Eine sehr generelle Antwort auf Ihre sehr allgemeine Frage gibt es nicht. Das hängt vom Individuum ab und ist in jedem einzelnen Fall anders. Je bedeutender, je größer ein Schriftsteller ist, desto eher kann ihm glücken, was Sie offensichtlich von der Literatur erwarten. Aber Sie möchten vielleicht Namen hören, hier sind zwei: Shakespeare und Goethe.
Teilen Sie meine Meinung, dass Wolf Biermann der bedeutendste deutsche Lyriker und Essayist der Gegenwart ist?
Ich schätze und bewundere Biermann seit vielen Jahren. Mein erster Artikel über ihn erschien 1965 in der Zeit . Das war damals die erste Kritik über seine Lyrik sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR.
Ich werde hier nicht wiederholen, was ich damals über Biermann geschrieben habe. Nur so viel: Ich habe von meiner hohen Anerkennung nichts zurückzunehmen.
In der Geschichte der deutschen Literatur mangelt es nicht an Autoren, die verbannt und vertrieben wurden, die man in Gefängnissen und Konzentrationslagern misshandelt und gepeinigt hat. Doch einen, der nicht singen und nicht publizieren durfte und der dennoch gehört und gelesen wurde, der den Widerstand gegen den Terror symbolisierte, der den
Weitere Kostenlose Bücher