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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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weil sie aus uns unbekannten Gründen den Herren in Stockholm missfielen.
    Ich habe Borges nur einmal getroffen: Ende Oktober 1982 in einem Frankfurter Hotel. Er war für einige Tage nach Deutschland gekommen. Er liebte dieses Land, weil er die deutsche Literatur liebte und die deutsche Philosophie bewunderte. Vor allem wollte er Düsseldorf besuchen, und zwar wegen Heine. Denn er empfinde sich, so Borges ganz ungeniert, als
Doppelgänger oder Nachfolger Heinrich Heines. Er wolle einmal in dem Haus sein, in dem dieser Dichter geboren wurde.
    Während er sich mit Emphase über Heine äußerte, blickte ich auf seine blaue Krawatte, die auf unauffällige Weise besonders schön war und vorzüglich zu seinem dunkelblauen Anzug passte. Während Borges temperamentvoll über Heine sprach, dachte ich mir: Er hat diese Krawatte nie gesehen. Schon in seiner Jugend haben ihm seine Augen viel Kummer bereitet. Ab 1955 war er vollkommen erblindet. Was wird er von seinem Aufenthalt im Hause Heines haben? Nichts als das Bewusstsein, im Hause Heines zu sein. Aber ist das wenig?
    Wir sprachen lange über Goethe, Schiller und natürlich Heine. Vom Theater allerdings wollte er nichts wissen. Natürlich bewundere er Shakespeare, doch nicht auf der Bühne. Von Brecht habe er nie eine Zeile gelesen. Nach seinen Vorbildern befragt, nannte er zuerst Kafka. Sein ganzes Leben habe er von und über Kafka gelesen, bisweilen ihn sogar plagiiert. Wirklich hervorragend seien aber nicht dessen Romane, sondern die Erzählungen.
    Eine Welt, bloß aus Büchern bestehend – so hat sich Borges einmal das Paradies vorgestellt.
Doch je länger das Gespräch mit ihm dauerte, desto klarer wurde mir, dass die Bücher, die er für das von ihm erträumte Paradies benötigte, fast ausschließlich Lyrik enthalten sollten. Er hat Heym und Trakl übersetzt, er rezitierte mit sichtlichem Vergnügen Liliencron und Morgenstern, Hofmannsthal und George. Die Expressionisten kannte er wohl alle.
    Bedeutende Dichter, sagte Borges, hätten etwas von einem Naturereignis – eben deshalb könne man sie nie kritisieren. Die Besprechungen seiner Bücher habe er nie gelesen. Wozu sollte er das tun? Sobald ein Werk vollendet und publiziert sei, existiere es für ihn nicht mehr, er wolle es unter keinen Umständen wiederlesen.
    Was ich von ihm kannte, interessierte Borges nicht, glücklicherweise. Denn meine Kenntnis seiner Schriften war und ist sehr dürftig. Das hat einen, freilich entscheidenden, Grund: Spanisch gehört zu den vielen Sprachen, die ich nicht beherrsche. Deshalb kenne ich jenen Teil seines Werks, der sein weitaus bedeutendster sein soll, überhaupt nicht – die Lyrik. Und damit hat es zu tun, dass ich mich sehr lange geweigert habe, über Borges zu schreiben. Ich bitte um Verständnis.

    Wie schätzen Sie das Werk Wolfgang Borcherts heute ein?
    Man hüte sich, Wolfgang Borchert, wie schon oft geschehen, zu unterschätzen. Er wurde von dem im Dritten Reich verpönten und verbotenen Expressionismus geprägt. Das gilt vor allem für sein Hauptwerk, das Drama Draußen vor der Tür . Dieses Heimkehrerstück ist Schrei und Aufschrei, Klage und Anklage in einem, es ist Ausdruck von Verzweiflung der vom Vaterland betrogenen, vom Krieg gemarterten und von der Nachkriegsgesellschaft ausgeschlossenen Generation.

    Haben Sie den Pianisten Władysław Szpilman persönlich gekannt? Hat die Verbindung zur Kunst bei ihm einen speziellen Überlebenswillen geschaffen? Mir scheint manchmal, Sie stellen in der Kunst die Literatur höher als die Musik.
    Ja, ich habe Władysław Szpilman, den der außerordentliche Film von Roman Polański in Deutschland bekannt gemacht hat, persönlich oft gesehen – im Warschauer Getto oder später, in der Nachkriegszeit, auch in Warschau. Wir haben lange Gespräche geführt, vor allem über Musik. Seine Konzerte sind mir unvergesslich. Dass es die Musik war, die seinen Überlebenswillen gesteigert hat, ist sicher richtig.
    Dass ich in der Kunst die Literatur höher stelle als die Musik, trifft nicht zu, das ist meiner Ansicht nach überhaupt nicht möglich. Ich liebe die Musik seit meiner Jugend, aber die Literatur wurde mein Beruf. Das war – davon bin ich überzeugt – die richtige Entscheidung. Denn letztlich ist mein Sinn für die Literatur viel stärker entwickelt als mein Sinn für die Musik.
    Noch kurz vor seinem Tod (in Warschau im Jahre 2000) habe ich mit Szpilman telefonisch
gesprochen. Es war eine ausführliche, eine unheimliche

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