Für alle Fragen offen
Literaten. Für Thomas Bernhard gilt dies mit Sicherheit nicht. Niemand konnte auf ihn Anspruch erheben, er war ein extremer Einzelgänger, ein programmatischer Außenseiter. Sein Œuvre, das epische wie das dramatische, spottet allen Vergleichen, es widersetzt sich, wenn auch nicht der Auslegung, so doch der Festlegung. »Sein Talent ist inkommensurabel« – heißt es in einem Gespräch Goethes über Lord Byron.
Was halten Sie von den Büchern von Joseph Conrad? Haben Sie sie einst begeistert gelesen?
Die erste Frage bringt mich in Verlegenheit, die zweite beantworte ich gern. Und ich bin dem Leser dankbar, dass er den Namen Joseph Conrad ins Gespräch bringt. Ich muss wieder einmal auf meine Schule zu sprechen kommen und die Rolle, die sie in meiner Jugend in den dreißiger Jahren gespielt hat.
Dass im Deutschunterricht die Liebe zur deutschen Literatur geweckt wurde, versteht sich von selbst. Aber das gilt auch für den Französisch-, den Englisch- und den Lateinunterricht. Besonders gut war unser Englischlehrer. Er hatte keine Hemmungen, mit uns Shakespeares reichstes, tiefstes, intelligentestes, schwierigstes Werk »durchzunehmen«: den Hamlet .
Ich habe ihn damals zum ersten Mal Zeile für Zeile gelesen, nicht nur das englische Original, sondern auch die herrliche, die bis heute, ich bin davon überzeugt, unübertroffene deutsche Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. Ich erinnere mich noch an einige andere Autoren, die wir im Englischunterricht
gelesen haben: Dickens, Edgar Allan Poe, Oscar Wilde und Joseph Conrad.
Die Frage, ob mich Conrads Bücher einst begeistert hätten, kann ich gleich beantworten – mit einem entschiedenen Ja. Sie haben mich so begeistert, dass ich André Gide verstanden habe, der Englisch lernte, um Conrad im Original lesen zu können. Und bei Thomas Mann habe ich die gelegentliche Bemerkung gefunden, Conrad sei der größte Erzähler des zwanzigsten Jahrhunderts. In der Schule konnten wir uns nur mit einem Werk von Conrad beschäftigen: mit der Erzählung Youth ( Jugend ). Sie ist mir unvergesslich.
Was soll man sonst von Conrad lesen? Das ist die Frage, die mich etwas in Verlegenheit bringt. Hier einige Titel: Herz der Finsternis , Lord Jim , Die Schattenlinie , Taifun . Aber ich will nicht verheimlichen, dass ich, gerade diese Titel hervorhebend, meines Urteils nicht mehr so sicher bin.
Sind es wirklich seine wichtigsten Bücher? Ich habe sie vor sechzig, ja vor siebzig Jahren gelesen. Ich müsste sie, um sie heute beurteilen zu können, jetzt noch einmal lesen. Aber so wie die Dinge liegen (ich bin Jahrgang 1920), werde ich es nicht mehr schaffen.
Conrad war ein englischer Schriftsteller, natürlich, aber er war ein Pole, geboren 1857 in Berditschew in der heutigen Ukraine. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr fuhr er auf Handelsschiffen. Erst im Alter von neunzehn oder zwanzig Jahren erlernte er die englische Sprache, in der alle seine Bücher geschrieben sind. Er war einer der besten Stilisten und Psychologen der englischen Literatur.
Sie haben im Lauf Ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit als Literaturkritiker sicherlich viele tausend Bücher gelesen. Gibt es ein Buch, das Sie über diesen Zeitraum begleitet hat, an das Sie als »Trost« nach der Lektüre von einigen eher schlechten Büchern denken?
Einige literarische Werke (von sehr unterschiedlicher Qualität) haben mich tatsächlich beinahe mein ganzes Leben lang begleitet: Faust , Iphigenie auf Tauris, Hamlet , Romeo und Julia , Prinz Friedrich von Homburg , Die Brüder Karamasow , Anna Karenina und noch einige andere. Das gilt auch für viele Gedichte, zumal von Goethe, Heine, Rilke, Brecht, Hofmannsthal, Kästner und vielen anderen. Allen diesen Autoren, aber auch vielen anderen, verdanke ich zugleich, was Sie »Trost« nennen.
Was sagen Sie zu Jorge Luis Borges?
Im Jahr 1982 unterhielt ich mich ausführlich mit dem hervorragenden peruanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa, unter anderem über Jorge Luis Borges. Llosa sagte knapp: »Wenn ein Dichter spanischer Zunge den Nobelpreis verdient hat, dann ist es Borges. Was er für unsere Literatur getan hat, lässt sich kaum überschätzen. Denn er hat die Sprache der modernen spanischen Poesie geschaffen. Wir alle kommen aus seinem Mantel.«
Kurz darauf wurde der Nobelpreis verliehen, und Borges, damals dreiundachtzig Jahre alt, wurde wieder einmal übergangen. Borges gehörte zu den großen Schriftstellern, die alljährlich den Nobelpreis nicht erhielten,
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