Für alle Fragen offen
erzählen kann und dolle Klatschgeschichten, dann geht daraus noch nicht hervor, dass seine Novelle oder sein Lustspiel in fünf Akten gut sein muss.
Andererseits habe ich Schriftsteller gekannt, deren Werk hochbeachtlich war, die mich aber im Gespräch nicht zu interessieren vermochten. Sonderlich wichtig ist diese Frage übrigens nicht, denn sie hängt keineswegs vom literarischen Talent des jeweiligen Autors ab. Wovon also? Von seiner Mentalität, seinem Temperament.
Die meisten Schriftsteller sind nur dann wirklich anregend, wenn sie über ihr eigenes Werk sprechen. Besonders enttäuschend sind Gespräche über literarische Pläne – schon deshalb, weil diese Pläne meist nie realisiert werden. Mir hat ein bekannter deutscher Autor den Inhalt seines nächsten Romans erzählt. Ich behauptete, an dem Projekt stark interessiert zu sein, und stellte zwei oder drei vorsichtige Fragen, um zu zeigen, wie ernst ich die Sache nähme. Mein Gesprächspartner war schon sichtlich enttäuscht, er glaubte, in den Fragen verberge sich Zweifel an seinem neuen Werk: »Ich sehe, du hast kein Verständnis für diesen Stoff.« In Wirklichkeit wollte er keine Fragen hören, sondern Ausdrücke der Begeisterung. Der Roman erschien, ist aber längst vergessen.
Außerordentlich anregend war im Gespräch Golo Mann – und nicht nur dann, wenn man
sich mit ihm über seinen Vater unterhielt, über den Onkel Heinrich, über die Schwester Erika und, ganz besonders, über den Bruder Klaus. Aber ich schätze und bewundere Golo Mann nicht wegen der Urteile und Anekdoten über seine Familienmitglieder, sondern wegen seiner Essays und Kritiken. Kurz und gut: Es kommt nicht darauf an, dass ein Schriftsteller ein guter Causeur ist, sondern gute Novellen oder Trauerspiele verfasst.
Wenn ich antworten sollte, wer der größte Schriftsteller war, mit dem ich plaudern konnte, dann lautet die Antwort knapp und schlicht: Brecht. Und Thomas Mann? Ich habe ihn nie getroffen, und das ist wahrscheinlich gut so. Denn er soll im persönlichen Umgang nicht sehr angenehm gewesen sein – wie übrigens auch Fontane, den sich viele seiner Leser wie den alten Stechlin vorstellen. So war er aber nicht, vielmehr wollte er so gesehen werden.
Dass Morgenstern so amüsant war wie seine Gedichte und Tucholsky wie seine Feuilletons – ich glaube es nicht. Sie hüteten sich, ihr Pulver im Alltag zu verschießen. Mit den Schauspielern ist es ähnlich. Sie sind elegant, charmant und anmutig – auf der Bühne. Im
Alltag sind sie nachlässig gekleidet, bewegen sich sorglos und wollen gar nicht charmant wirken.
Da fällt mir noch Kafka ein. Sehr interessant war er, glaube ich, nicht. Aber ein Genie.
Empfinden Sie die gleiche Begeisterung für einzelne Autoren wie in Ihrer Jugend? Und gibt es Autoren, von denen Sie damals begeistert waren und später enttäuscht wurden?
Jawohl, beides gibt es. Ich war in meiner Jugend geradezu hingerissen von Kleists Prosa und Büchners Dramen, von den Romanen Fontanes und den Novellen Schnitzlers, von Brechts Lyrik, von Tucholskys Feuilletons und von Polgars Kritiken. Ich liebe diese Autoren auch als alter Mann. Natürlich gibt es den umgekehrten Fall: Werke, die mich in jungen Jahren tief beeindruckt haben, deren Wirkung aber mit der Zeit offensichtlich nachgelassen hat, und solche, deren Bedeutung sich mir erst später offenbarte. Nur ein Beispiel sei genannt: Shakespeares König Lear.
Ich las diese Tragödie in meiner Jugend – respektvoll, ja, ehrerbietig. Doch zugleich hat mich das Stück auch enttäuscht: Es schien mir nicht vergleichbar mit Hamlet , Romeo und Julia oder Julius Cäsar . Die Geschichte eines offenbar senilen Greises, der nicht mehr imstande ist, die Welt wahrzunehmen, geschweige denn sie einigermaßen vernünftig zu beurteilen, der
sein Reich leichtsinnig verschenkt und auf die Gnade von zwei bösen, niederträchtigen Töchtern angewiesen ist, der, vereinsamt und wahnsinnig geworden, auf der Heide umherirrt (und zu allem Unglück gibt es auch noch Sturm, Blitz und Donner) – nein, diese Geschichte konnte mich schwerlich überzeugen.
Aber der König Lear gehört doch zu den berühmtesten Tragödien der Weltliteratur. Ich wurde unsicher, ich las dies und jenes über das Stück. Mein Freund, der vorzügliche Theaterkritiker Georg Hensel, den wir auf keinen Fall vergessen dürfen, schrieb über König Lear den schönen Satz: »Diese Tragödie ist ein Elementarereignis, wie der Sturm auf der Heide.«
Letztlich
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