Fuer Elise
einfach schreiend davonlaufen. Sie wollte das Handy gerade vor sich aufs Laken schmeißen, als ihr Michas Anruf wieder einfiel.
"Konnte Dich gestern nicht erreichen. Versuche es m orgen nochmal. Alles in Ordnung? Micha."
Sie sank zurück ins Kissen und genoss die Schmetterlinge in ihrem Bauch. Zugegeben, er war aufdringlich gewesen, als sie sich das erste Mal in der Aula der Trinity Universität begegnet waren. Aber so anhänglich sein Verhalten einerseits wirkte, so eisern blieb er, wenn Elise versuchte ihm näher zu kommen. Zurückrufen war jedenfalls keine Option. Sonntags war Micha nicht erreichbar. Er studierte Theologie und nahm den heiligen Ruhetag sehr ernst.
Bei dem Gedanken kehrte eine bekannte Ruhe in sie ein, so als krieche das Leben aus ihren Adern und verstecke sich irgendwo in einem dunklen Eck des Schlosses. Gedankenverloren strich sie sich über den Hals, dort wo ihre Haut zart war und ihr verschlafener Puls kaum spürbar in einer Ader pochte.
Ein Gä nsehautschauer überlief sie. Diesmal kam er so heftig, dass sich der Raum zu drehen begann.
Das musste aufhören! Das Selbstmitleid, das Leben in Abgeschiedenheit, die Angst sich lächerlich zu machen wegen des Berufs ihres Vaters. Das Trauerjahr war um und es gab keine Entschuldigungen mehr, dass sie sich vor seinem Erbe drückte. Der Traum war ein Fingerzeig ihrer Seele.
Sie versuchte das Verlangen nach dem Gewaltakt des Vampirs aus ihren pochenden Schläfen zu verdrängen.
Aber w arum war gerade Micha im Traum das Monster gewesen?
Sie schwang ihre zu schlank gewordenen Beine aus dem Bett und ging hinüber zum Schrank. Ohne nachzudenken griff sie zu ihrer engsten Jeans, um einen Schlabbereffekt wegen ihrer starken Abnahme der letzten Monate zu vermeiden. Sie beschloss mit den Änderungen gleich beim Frühstück zu beginnen und wieder ausreichend zu essen.
Wie selbstverständlich tastete sie nach einem grauen Shirt, glitt dann aber weiter zu einem fuchsiafarbenen Viskoseteil mit Spitzenborde und halblangen Ärmel. Sie versuchte nicht darüber nachzudenken, ob es sich zu sehr mit der Farbe ihres Haars biss.
Mit dem obligatorischen Halstuch bewaffnet, ging Elise zum Bett, als sie mit den Augen am Bild ihres Vaters hängen blieb. Selbst auf dem Foto saß die kleine Drahtbrille schief auf seiner Nase. Ein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf: offene Augen, wachsweise Haut, blutleere Lippen. Aber seine Miene war nicht erschlafft gewesen, wie die gewöhnlicher Leichen. Überrascht hatte er ausgesehen, beinahe fassungslos…
Er war tatsächlich in einer Gasse Dublins gefunden worden. 'Tot durch Herzinfarkt', stand später auf dem Totenschein. Es gab keine Anzeichen körperlicher Gewalt und natürlich fragte sich nur Elise, ob noch Blut in seinem Körper gewesen war und ob, durch das Vampirgift, bis zur Unkenntlichkeit zusammengezogene Bisswunden, von seinen Mördern zeugten.
Seitdem war mehr als ein Jahr vergangen und Elise war jetzt allein. Zuviel Sterben und Verlust prägte n ihr Leben. Eine Wochenbettinfektion hatte ihr die Mutter bereits nach ihrer Geburt entrissen. Ihr Großvater war dem Krebs zum Opfer gefallen, wenige Jahre nachdem die Großmutter mit einem anderen Mann, einem 'Bodenständigeren', wie sie erklärt hatte, ein neues Leben begonnen hatte. Vermutlich lebte sie weit entfernt von Choisric Castle und seiner Vorgeschichte, die wie ein Fluch über der Familie lag.
Elise war die letzte Brennan.
"Ich weiß du bist enttäuscht." sagte sie zu ihrem Vater und schlang sich das Halstuch um. "Ich mache es wieder gut."
Ihr Blick glitt zum Fenster. Sie sollte wieder zu Joggen beginnen. Aber selbst im August, war es um diese Uhrzeit noch kühl und in Anbetracht der Dunkelheit kämpfte sich ein ungutes Gefühl in ihr hoch, dass sich nicht weiter greifen ließ. Elise massierte sich den Nacken. Die Stelle fühlte sich kalt an, genau da, wo der Vampir sie im Traum gepackt hatte…
Sie küsste ihre Fingerspitzen und berührte damit das Bild ihres Vaters. Vielleicht hatte sie, um sich zu schützen, die Vampirforschung nie wirklich ernst genommen. Vielleicht, um einen Rest Normalität in ihrem Leben zu bewahren. Jetzt fühlte sich das unfair an und ein Schuldgefühl grub sich in ihre Seele ein.
Sie schob das Handy in die Gesäßtasche ihrer Jeans und stand auf.
Der Galerieflur floss mit einer geschwungenen Holztreppe in den Eingangsbereich des Schlosses. In seinem Prunk wirkte der Familienwohnsitz der Brennans wie ein Relikt aus besseren
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