Für immer die Seele (Für-immer-Trilogie) (German Edition)
es natürlich keinen Sinn, hinzugehen. »Setz dich ruhig auf deinen Platz. Haben die Ärzte gesagt, wann du wieder spielen kannst?«
Ich schüttele den Kopf. »Dauert wahrscheinlich noch eine ganze Weile.« Obwohl die anderen weiter mit Stimmen beschäftigt sind, merke ich genau, dass alle gebannt unser Gespräch verfolgen. Claire White beugt sich tief über ihr Instrument und inspiziert aufmerksam den Bogen, aber ich weiß, dass sie das Gleiche denkt wie ich. »Claire sollte meinen Platz einnehmen«, sage ich. In den letzten drei Jahren hat sie immer neben mir gesessen und auf ihre Chance gewartet. Steinberg runzelt die Stirn und sieht mich an. »Vielleicht solltest du erst noch einmal darüber nachdenken, ehe wir das entscheiden …«
»Das habe ich schon. Ich nutze im Moment niemandem, und Claire hat es verdient, sie wird ihre Sache gut machen.«
»Gut, dann machen wir es so. Aber nur vorläufig.«
»Okay, vorläufig. Und wenn ich so weit bin, versuche ich, ihn mir zurückzuerobern. Irgendwann.«
»Sicher schon bald«, sagt Herr Steinberg und zwinkert mir fast unmerklich zu, bevor er zu Claire hinübergeht und ihr etwas ins Ohr flüstert.
Claire dreht sich zu mir um und ich lächele ihr aufmunternd zu. Zögerlich steht sie auf, nimmt ihre Noten und legt sie auf den leeren Ständer vor meinem Platz. Ihre Wangen sind fast so feuerrot wie ihre Haare. Ich rühre mich nicht, sitze aufrecht da und blicke stur geradeaus, während die anderen abwechselnd zu ihr und zu mir schauen und begreifen, was gerade passiert ist.
Sie beginnen mit Beethovens Ouvertüre zu Coriolan , ein Stück, dass ich bestimmt tausend Mal gespielt habe. Die fast tauben Finger meiner linken Hand erinnern sich an jede einzelne Note und zucken hilflos beim Versuch, die Fingersätze nachzuahmen. Vielleicht werden sie das Stück nie wieder spielen. Während die Musik des Orchesters den kleinen Saal erfüllt, spüre ich plötzlich den mittlerweile schon so vertrauten Sog einer Erinnerung.
Starke Arme ergreifen mich, als meine Beine unter mir nachgeben. Die Tränen laufen in Strömen über mein Gesicht, ich kann das Bild von Alessandras zerschmettertem Körper nicht aus meinem Kopf bekommen. Signor Barone spricht in der fremden Sprache dieses Landes mit den Polizeidienern, die überall auf dem Dach herumlaufen, und zeigt mit dem Finger immer wieder in meine Richtung. Dann zerrt man mich plötzlich in Richtung der Treppe. Ich blicke in Gesichter, die feindselig sind und voller Verachtung, und mit einem Mal begreife ich, was vor sich geht.
»Ich habe nichts getan!«, rufe ich, von Panik ergriffen, aber die Männer, die mich fortschleppen, scheinen nicht zu verstehen, was ich sage. »Ich habe ihr nichts getan, Sie müssen mir glauben! So war es nicht. Warum hört mir denn niemand zu?«
»Oh nein, bitte lass es nicht wahr sein!« Paolo kommt durch die Tür aufs Dach gestürmt und läuft an mir vorbei, als wäre ich unsichtbar. »Man hat mir gesagt, sie sei hinuntergestürzt. Wo ist sie? Wo ist Alessandra?«, ruft er und eilt mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Rand des Daches, wo die anderen stehen und auf den blutüberströmten, zerschlagenen Körper hinuntersehen. Paolo wirft einen Blick über die Brüstung, sinkt auf die Knie und vergräbt sein Gesicht in den Händen. Ein heiseres Stöhnen kommt aus seiner Kehle. »Sie darf nicht tot sein … Bitte lass sie nicht tot sein …«, wimmert er, und sein Körper wiegt sich im Rhythmus seiner monotonen Klage. Signor Barone kommt herüber und legt beruhigend eine Hand auf seine Schulter.
»Hilft mir denn niemand?«, rufe ich verzweifelt, aber keinen kümmert es, dass die unnachgiebigen Arme mich zur Tür zerren. Als wir die Treppe erreicht haben, hebt Paolo kurz den Kopf und sieht mich an: Blanker Hass liegt in seinen Augen.
Die letzten Töne der Ouvertüre sind verklungen. Ich schaue mich verstört um, immer noch erfüllt von der Panik dort oben auf dem Dach. Alessandra ist in den Tod gestürzt, und ich wurde beschuldigt, sie hinuntergestoßen zu haben. Meine Erinnerung reicht nicht weiter als bis zu den Männern, die mich wegzerren, trotzdem weiß ich genau, dass ich in jenem Leben nach dieser Nacht nie wieder Cello gespielt habe.
* * *
»Es klingt einfach unglaublich«, sagt Rayne, beißt in den Apfel, den wir uns in der Küche geschnappt haben, und holt ihre Bücher aus dem Rucksack.
»Was genau? Dass ich vor über hundert Jahren schon mal in San Francisco war? Dass Alessandra vom Dach
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