Für immer tot
wie tief sie liegt und so weiter und so weiter. Am besten wäre es, Sie stecken den Zettel schön sichtbar in Ihre Hemdtasche.
– Warum?
– Damit er auch gefunden wird. Sie wollen ja, dass man Ihre Stiefmutter ausgräbt, solange sie noch am Leben ist, oder?
– Ich will lesen, was da steht.
– Bitte, lesen Sie nur.
– Auf der Mülldeponie?
– Dort gehört sie hin.
– Das Gelände ist überwacht und abgesperrt, wie kann es sein, dass du dort jemanden vergraben hast?
– Der Deponietechniker war sehr freundlich. Er hat mir alles erklärt, wie die Anlage funktioniert, wie oft er seine Runden geht, ob die Anlage tatsächlich überwacht wird. Ein freundlicher Mensch, etwas einsam vielleicht, aber freundlich. Er war sehr dankbar, dass ich ihm zugehört habe.
– Du hast sie auf einer Mülldeponie begraben?
– Ein ausgezeichneter Platz, finde ich, weit und breit kein Mensch, keine Kameras, kein Handymasten kilometerweit, umzäunt, sicher, der optimale Ort, um länger zu verweilen, wie gesagt, perfekt für unsere Tilda Broll.
– Schwein.
– Es gibt dort Wege bis zum letzten Winkel, mit dem Auto wunderbar zu erreichen. Etwas unangenehm zwar, weil es ein bisschen riecht und man durch den Dreck waten muss, aber äußerst praktisch. Sie liegt ganz unten im letzten Winkel der Anlage. Ich habe sie schön ordentlich mit Müll zugedeckt. Dreck zu Dreck sozusagen.
– Warum um Himmels Willen tust du das?
– Die abgetriebenen Kinder kamen damals auch einfach auf den Müll. Sie hat es nicht anders verdient.
– Lass mich die Polizei anrufen und ihnen sagen, wo sie suchen müssen. Dann kannst du mich erschießen.
– Ach, wie einfältig Sie doch sind.
– Du sollst aufhören zu reden und es endlich zu Ende bringen.
– Ich werde Sie doch nicht erschießen.
– Sondern?
– Sie werden springen.
– Was werde ich?
– Sie werden jetzt hinaus auf die Brüstung steigen und springen, und die Polizei wird mit Ihrer Leiche auch den Zettel finden.
– Das werde ich nicht tun.
– Doch, das werden Sie.
Max ist zu langsam. Der Weg ist zu weit.
Wagner trifft seinen Oberarm, das weiße Hemd färbt sich erneut. Er wollte sich auf ihn stürzen, ihn niederreißen, ihm sein Maul stopfen, ihm weh tun, ihn erschlagen, doch er war zu langsam. Wieder ein Streifschuss. Blut. Hass. Max hatte Glück, die Kugel hätte ihn treffen können, sein Herz, seinen Kopf, er will schreien, doch Wagner hält einen Zeigefinger an seine Lippen.
Leise, sagt er. Wenn Sie nicht still sind, ist alles vorbei.
Seelenruhig erklärt er noch einmal, dass Tilda sterben wird, sollte er gezwungen sein, Max zu erschießen. Er beschreibt ihren Tod, ihr Elend im Dunkel, wie sie verdurstet, wie sie sich selbst beißen wird, um ihr Blut zu trinken, wie sie sich selbst verletzen wird, um zu sterben, um es nicht länger aushalten zu müssen unter der Erde. Wagner lässt sich Zeit. Er genießt es, er malt Fratzen, malt Angst, er malt Tildas Tod.
Max schweigt, er beißt seine Lippen zusammen, sein Oberschenkel brennt, sein Oberarm, Fleischwunden, die Haut ist aufgerissen, er würde nicht daran sterben, in zwei Monaten würde man nichts mehr sehen, nicht erahnen, dass er hier war, dass ein Verrückter auf ihn geschossen hat. Er lebt. Nur Streifschüsse. Er liegt nicht vergraben in einem Loch. Nur Kratzer, Wunden. Er schreit nicht, er darf nicht, er hat keinen Grund dafür, sein Schmerz ist lächerlich im Vergleich zu ihrem. Er muss still sein. Er muss tun, was dieses Arschloch von ihm verlangt. Es gibt keinen anderen Ausweg, er sieht keinen, er ist oben auf dem Turm, da ist nur noch der Himmel.
Max kann es nicht aufhalten. Wie sehr er es auch will, er kann Wagner sein elendes Grinsen nicht aus dem Gesicht reißen, er kann es nicht verhindern, dass seine Füße auf die Brüstung steigen werden, dass sie durch die Luft fliegen, dass sie am Asphalt aufschlagen, zerplatzen, ausrinnen.
Max schaut ihn an.
Wagner steht vor ihm, er lächelt, er richtet die Waffe auf ihn. Er wirkt glücklich, er hat es riskiert, hierher zu kommen, alles auf eine Karte gesetzt, nur um dieses Spiel zu spielen, nur um Max zu zeigen, dass er länger atmet, dass niemand ungestraft so über ihn spricht. Max sieht, wie erregt er ist, wie besessen, rachezerfressen. Er bestraft den Totengräber, er richtet ihn hin. Genugtuung in seinem Gesicht, in seinen Augen die Freude, die ihm dieses kleine Drama bereitet. Max Broll wird springen. Und Leopold Wagner wird die Treppen nach unten gehen.
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