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Für immer tot

Für immer tot

Titel: Für immer tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Aichner
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Er wird durch den Seiteneingang die Kirche verlassen und für immer verschwinden. Er wird sich die Haare färben, eine Perücke tragen, sich operieren lassen, er wird sich einen falschen Pass kaufen. Er wird überleben. Max wird sterben.
    Springen. Er muss. Jetzt. Noch nie war der Tod so nah. An keinem Tag am Friedhof. Nicht einmal, als sein Vater starb, oder Hanni. Der Knochenmann steht neben ihm, er schwingt die Sense und grinst. So wie auf den Bildern in der Kapelle, der Totentanz. Ein Gemälde aus dem 16. Jahrhundert, eine Verbeugung vor dem Tod, die zeigt, wie er sich jeden Menschen holt, den Arzt, die Magd, das Kind, sogar den Pfarrer. Max ist als Kind oft stundenlang davor gestanden, er war fasziniert, dass der Tod eine Gestalt hat, ein Gesicht. Jetzt steht dieses Gesicht vor ihm. Hasserfüllt und gierig.
    Max geht Richtung Tür.
    Er drückt die kleine Klinke nach unten und setzt ein Bein vor das andere. Sein Bein schmerzt, er hinkt. Die Blechtüre geht auf. Max sieht den Himmel. Das Meer ist weit weg hinter den Bergen, kein Rauschen ist zu hören, nichts. Da ist nur die Volksschule weit unten, die chemische Reinigung. Da ist nur noch das niedrige Geländer, das vor dem Sterben kommt.
    Der Turm ist vierundsechzig Meter hoch. Einen Sprung aus dieser Höhe zu überleben ist unmöglich, egal wo er hinspringt, es wird zu Ende sein. Selbst wenn er es in den großen Kastanienbaum schaffen würde, die Äste würden ihn aufspießen. Max atmet tief ein und aus. Wagner steht neben ihm. Er nickt aufmunternd. Max versichert sich, dass das Stück Papier, das Tildas Leben retten wird, gut feststeckt in seiner Hemdtasche. Er hat es so platziert, dass es denen, die ihn finden, sofort ins Auge sticht. Sie werden sie finden. Bald.
    Max hält sich am Geländer fest. Es ist nur ein Augenblick, eine kleine Entscheidung, dann ist alles vorbei, ein Ja, ein Sprung. Er muss sich überwinden, kurz nur, abspringen. Wie damals im Schwimmbad. Springen. Augen zu. Für Tilda.
    Wagner hinter ihm.
    Guten Flug, sagt er.
    Er muss loslassen. Nicht festhalten. Einfach loslassen, die Augen schließen. Alles ist anders gekommen. Und es ist gut so, wie es ist. Er stirbt jetzt. In ein paar Sekunden ist er tot. Einfach so. Max hat sich diesen Moment immer anders vorgestellt. Er hat immer gedacht, er wird sehr alt sein, wenn der Tod kommt, zittrig in einem Bett liegen und einfach einschlafen. Vielleicht würde Baroni an seinem Bett sitzen, vielleicht würde er sogar neben ihm liegen mit einer Flasche Schnaps in der Hand. Vielleicht würden sie noch einmal einen kräftigen Zug machen und dann einfach aufhören, da zu sein. Diese Vorstellung hat ihm immer gefallen. Aber so kommt es nicht.
    Springen Sie, sagt Wagner. Sie haben exakt eine Minute.
    Gleich wird er tot sein. Sollte er nicht springen, wird Wagner schießen. So einfach ist das. Max hat noch fünfzig Sekunden, vielleicht nur noch vierzig. Er muss über das Geländer klettern, er muss es.
    Er tut es.
    Der Blick hinunter ist ihm vertraut. Als sie Kinder waren, haben sie mit Vogelbeeren aus kleinen Röhrchen auf die Kirchgänger geschossen, sie haben den Alten auf die Hüte gespuckt, in ihre Hochsteckfrisuren. Max hatte Spaß hier oben, dieser Ort war nie bedrohlich für ihn, er ist schwindelfrei, er steht außerhalb der Brüstung. Max am Kirchturm. Er hält sich am Geländer fest, seine Finger sind entschlossen loszulassen. Gleich. Es wird die letzte Entscheidung sein, die er trifft.
    Er hat noch zwanzig Sekunden.
    Wagner schaut auf seine Uhr und zählt laut.
    Fünfzehn. Er lacht.
    Max schaut nach unten. Zehn.
    Er schließt seine Augen, er wird einfach loslassen und fallen.
    Fünf. Wagner zählt.
    Einfach loslassen. Nicht denken.
    Drei. Wie Hanni ihn anlacht.
    Zwei. Wie er in ihren Armen liegt.
    Eins.

Zweiundzwanzig
     
    Drei Tage nur sie beide.
    Wein, Crostini, Pasta. Hanni hatte ihn gebeten, mit ihr nach Italien zu fahren, drei Tage wollte sie ihn nur für sich, mit ihm in einem italienischen Bett liegen, ihn Tag und Nacht küssen, Nudeln essen mit ihm in einer schummrigen Trattoria. Von heute auf morgen kam die Idee, vor zwei Wochen packte sie ihn einfach ein und fuhr los. Mit Max über die Autobahn, mit Max im Autogrill, mit Max auf einer fünfspurigen Straße durch Florenz.
    Max hatte sich nicht gewehrt, er mochte es, wenn Hanni das Ruder in die Hand nahm, wenn sie ihn aus seinem Alltag riss. Er saß neben ihr und schaute sie an. Am Beifahrersitz liebte er sie, weil sie so schön war, so

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