Für jede Lösung ein Problem
vielleicht hatte Charly sogar Recht: Denn obwohl ich mich am liebsten auf dem Sofa verkrochen hätte, weckte mein Unterbewusstsein mich am nächsten Morgen früh und zerrte mich aus dem Bett. Es wollte wohl wirklich Zoff.
Pünktlich um acht Uhr klingelte ich an der Haustür meiner Eltern.
Mein Vater öffnete mir die Tür. Er sah irgendwie müde aus und ein bisschen älter als sonst.
»Hallo, Papa«, sagte ich.
»Hallo, Gerri«, sagte mein Vater. Er verzog keine Miene. Er machte auch keinerlei Anstalten, mich wie sonst zu umarmen und zu küssen. »Deine Mutter ist in der Küche.«
»Weißt du, das bin nicht ich, die hier vor dir steht«, sagte ich. »Das ist mein Unterbewusstsein.«
Im Gesicht meines Vaters rührte sich nichts. »Deine Mutter will dich nicht sehen. Sie hat gerade Blumen geliefert bekommen. Von Großtante Hulda.«
»Oh«, sagte ich. »Ich dachte, ihr hättet Großtante Hulda Bescheid gesagt, dass ich mich … doch nicht … Soll ich wieder gehen?«
»Wage es ja nicht!«, rief meine Mutter aus der Küche. »Sie soll reinkommen!«
»Komm rein«, sagte mein Vater.
»Großtante Hulda war das Wochenende über nicht da«, rief meine Mutter aus der Küche. »Ich habe es ihrer Haushälterin gesagt, ich habe sie angefleht, dass sie deinen Brief vernichtet, aber diese polnische Schlampe hat so getan, als verstünde sie mich gar nicht …«
»Tut mir leid«, sagte ich. Mein angeblich zoffliebender Persönlichkeitsanteil hatte sich wieder vollends im Untergrund verkrochen. Ich stand allein da, harmoniesüchtig wie eh und je.
»Ach, sei still«, sagte meine Mutter hinter der Küchentür. »Du rufst jetzt höchstpersönlich bei Großtante Hulda an und erklärst das alles, hast du mich verstanden? Die Nummer liegt neben dem Telefon.«
Mein Vater stellte mir mit steinernem Gesicht einen Stuhl aus dem Esszimmer neben das Telefon und verschwand dann im Wohnzimmer.
Ich wählte Großtante Huldas Nummer.
»Berkrschtflukmanskijov«, sagte jemand am anderen Ende der Leitung. Das war sicher die Haushälterin.
»Hier ist Gerri Thaler, ich bin die Großnichte von Frau Flugmann, ist sie im Haus?« Es war noch früh am Morgen, aber ich sehnte mich nach einem Wodka. Dummerweise waren die Alkoholika alle in der Küche, und da war auch meine Mutter. Sie hielt wahrscheinlich das Ohr an die Tür gepresst, um zu kontrollieren, ob ich auch wirklich meinen Job erledigte.
»Ja bitte?« Das war die kultivierte, jugendliche Stimme meiner Großtante.
Ich räusperte mich. »Hier ist Gerri.«
»Gerri?«
»Gerri, die jüngste Tochter deiner Nichte Dorothea.«
»Dorothea?«
Ich seufzte. »Die Gerri, die das Meißner Porzellan auf dem Gewissen hat, Großtante Hulda.«
»Ach, die Gerri. Danke für deinen netten und originellen Brief, Herzchen«, sagte Großtante Hulda. »Aber ich dachte, du hättest dich bereits umgebracht. Oh, da habe ich sicher etwas überlesen. Dummerweise habe ich deiner Mutter nämlich schon Blumen geschickt.«
»Ja, ich weiß, vielen Dank. Ähm, es ist jedenfalls so, dass ich noch lebe und dir sagen wollte, dass … meine Mutter ist jedenfalls ganz … Sie würde immer noch gerne … Also von allen Schwestern ist sie wirklich die …«
»Hörst du wohl auf damit!«, zischte meine Mutter hinter der Küchentür. Ich verstummte.
»Natürlich lebst du noch, sonst könntest du mich wohl schlecht anrufen, nicht wahr, Herzchen?« Großtante Hulda machte eine Pause. Ich hörte, wie sie sich einen von ihren Zigarillos anzündete. »Wie willst du es denn tun? Wird das nicht schwierig werden, wo doch jetzt alle wissen, was du vorhast?«
»Ich – also, ich wollte Schlaftabletten nehmen«, sagte ich. »Das wäre eine todsichere Sache gewesen. Ich hatte fünfunddreißig Stück, aber die habe ich – unter Umständen, die zu schildern jetzt wirklich viel Zeit in Anspruch nehmen würde – verloren.«
»Verloren?«
»Ein Zimmermädchen hat sie alle aufgesaugt.«
»Oh, ach so, ich verstehe, Herzchen. Das ist natürlich dumm gelaufen«, sagte Großtante Hulda. »Und etwas anderes konntest du auf die Schnelle nicht improvisieren?«
»Nein«, sagte ich.
»Na, das ist ja auch alles so unappetitlich . Und wenn man mal einen Knollenblätterpilz braucht, ist weit und breit keiner aufzufinden.« Kicherte Großtante Hulda etwa? »Willst du es denn noch einmal versuchen, Herzchen?«
Ich wusste die Antwort selber nicht. Wollte ich es noch einmal versuchen?
»Entschuldige dich endlich«, zischte meine Mutter hinter der
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