Für jede Lösung ein Problem
Küchentür.
»Entschuldige bitte, Großtante Hulda«, sagte ich.
»Aber was denn, Herzchen?«
»Na ja, dass ich … dass du … diesen Brief bekommen hast«, stotterte ich.
»Ach, bitte, Herzchen! Das war doch mal eine nette Abwechslung. Und danke für all die vielen Hefte. Ich lese ja sonst so etwas nicht …«
»Natürlich nicht«, sagte ich bitter. Alle lasen sie nur Kafka und Thomas Mann.
»… aber die Bilder gefallen mir. Wie diese Frau sich hier nach hinten biegt in ihrer Schwesterntracht, also wirklich, sehr gelenkig. Und der junge Mann hat einen unglaublichen Brustkorb. Und wie finster er dreinschaut. Herrlich. Ich glaube, ich werde jetzt ein bisschen darin schmökern. Arrivederci, mein Herzchen.«
»Äh, ja, arrivederci, Großtante Hulda.«
»Das war schon alles?«, rief meine Mutter aus der Küche. »Was hat sie gesagt?«
»Schöne Grüße«, sagte ich. »Kann ich jetzt wieder gehen?«
»Kommt gar nicht Frage«, rief meine Mutter. »Du wirst den ganzen Tag an diesem Telefon sitzen und die Anrufe entgegennehmen. Diese Suppe hast du uns eingebrockt, und es ist nur gerecht, wenn du sie auch selber auslöffelst.«
»Warum schaltest du nicht einfach den Anrufbeantworter ein?«, schlug ich vor.
»Weil das alles nur noch schlimmer macht«, sagte meine Mutter. »Dann muss ich zurückrufen … Nein, nein, du wirst den Leuten direkt und persönlich am Telefon erklären, dass das alles ein großer Irrtum war und ich überhaupt nichts damit zu tun habe.«
»Du meinst, ein Irrtum im Sinne von … äh …?«
»Im Sinne von … Lass dir verdammt noch mal was einfallen!«, schrie meine Mutter. »Ich habe einen Ruf zu verlieren.«
Ich machte es mir also auf dem Stuhl gemütlich und hoffte sehr,dass das Telefon gar nicht klingeln würde. Aber leider klingelte es ziemlich bald. Der erste Anrufer war Frau Köhler, die Mutter von Klaus Köhler.
»Ich habe mir gleich gedacht, dass das ein übler Scherz war«, sagte sie, als sie erkannte, wen sie am Telefon hatte. »Du hattest immer schon einen eigenartigen Sinn für Humor.«
»Entschuldige dich!«, zischte meine Mutter hinter der Tür.
»Entschuldigung«, sagte ich.
»Bei Klaus solltest du dich entschuldigen«, sagte Frau Köhler. »Wie du dessen Gefühle mit Füßen getreten hast! Du wirst ja leider niemals selber einen Sohn haben, sonst würdest du früher oder später erfahren, wie weh das einer Mutter tut, wenn sie miterlebt, wie ihrem Sohne das Herz aus dem Leib gerissen wird … Wenn ihm die Illusionen geraubt werden, dass es in der Welt gerecht zugeht!«
»Aber ich hatte Ihnen doch geschrieben, wie das gewesen ist, Frau Köhler!«, sagte ich. »Eigentlich hat Klaus mir die Illusionen geraubt!«
»Mein liebes Mädchen«, sagte Frau Köhler, wobei klar war, dass sie mich kein bisschen lieb fand. »Wie du es auch drehst und wendest, es wird wohl immer ein Schandfleck in deinem Lebenslauf bleiben, dass du gleich mit zwei Jungs zum Abschlussball verabredet warst. Aber ich habe Dorothea immer gewarnt: Die Frühreifen, die kleinen Flittchen, das sind die Sitzengebliebenen von später.«
Und die stinkenden Nasebohrer sind die Shooting-Stars von morgen, oder was? Ich war kein Flittchen gewesen! Überhaupt nicht frühreif. Ich hatte mit sechzehn noch nicht herausgehabt, wie man einen Tampon benutzt. Aber wozu das Frau Köhler auf die Nase binden?
»Entschuldige dich!«, zischte meine Mutter hinter der Tür.
»Nochmals Entschuldigung«, sagte ich und legte auf. »Warum meint Frau Köhler, dass ich keine Kinder bekommen werde, Mama? Denkt sie auch, ich sei lesbisch?«
»Um Kinder zu bekommen, braucht man einen Mann «, sagte meine Mutter hinter der Tür. »Und nachdem, was du getan hast, will dich keiner mehr haben. Keiner, der seine acht Sinne halbwegs beisammenhat. Was meinst du, wie froh der Klaus ist, dass dieser Kelch an ihm vorübergegangen ist! Ach, ich schäme mich in Grund und Boden.«
Acht Sinne? Klaus Köhler verfügte über acht Sinne? Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, stinken, Nase bohren – aber was konnte der achte Sinn sein?
Der nächste Anrufer war meine Tante Alexa. »Nanu, Gerri-Kind, du bist zu Hause? Ich dachte, deine Mutter würde dich nie wieder über die Schwelle lassen?«
»Doch, aber nur bis in den Flur«, sagte ich.
»Entschuldige dich«, zischte meine Mutter.
»Entschuldige, Tante Alexa«, sagte ich.
»Aber wofür denn?«, fragte Tante Alexa. Oh, stimmte ja, ihr hatte ich überhaupt keinen beleidigenden Brief
Weitere Kostenlose Bücher