Für jede Lösung ein Problem
gesund, oder? Du hast ein Dach über dem Kopf und bist immer satt geworden, oder?« rief sie unerwartet temperamentvoll, und ihre Augen funkelten mich voll gerechtem Zorn an. »Weißt du, wie vielen Menschen auf der Welt es schlecht geht? Wie viele Menschen in einem Staat leben, wo Krieg herrscht, Hunger und Armut? Wie viele Menschen sich einen gesunden Körper wünschen würden? Du versündigst dich gegen Gott, wenn du nicht zu würdigen weißt, wie gut es dir geht.«
Ich biss mir auf die Lippen.
»Weißt du, wie du mir auf die Nerven gehst«, sagte Charly und zog mich am Ellenbogen weiter. »Selbstgerechte Religionsfanatikerin! Weißt du, wie viel Kohle deine Kinder für Therapien ausgeben müssen, wenn sie erwachsen sind? Ihr macht Jesus traurig, wenn ihr euch streitet. Ihr macht Jesus traurig, wenn ihr Krach macht. Ihr macht Jesus traurig, wenn ihr Pipi in die Hose macht! Wenn sich hier einer versündigt, dann doch wohl du! Nur du merkst das nicht mal. Komm, Gerri, wir hauen hier ab, bevor sie noch anfängt, mit Weihwasser um sich zu spritzen.«
Im Auto weinte ich.
»Hilla hat doch Recht«, schluchzte ich. »Wenn sich jeder umbringen würde, dem es schlechter geht als mir, wäre das Überbevölkerungsproblem mit einem Schlag gelöst.«
»Klar, es gibt immer welche, denen es schlechter geht«, sagte Charly. »Iss dein Gemüse, die Kinder in der dritten Welt wären froh, wenn sie überhaupt was zu essen hätten. Jammer nicht über dein aufgeschlagenes Knie, denk an die Menschen, die überhaupt keine Beine mehr haben. Weine nicht, weil deine Katze tot ist, die arme Katerina Lemuskaja hat beim Massaker von Wladiwostok ihren Mann, ihre Söhne und ihre Töchter verloren.«
Ich hatte wohl länger keine Zeitung mehr gelesen. »Wer ist denn Katerina Lemuskaja, und was war das für ein Massaker in Wladiwostok?«
Charly seufzte. »Keine Ahnung, das habe ich gerade erfunden. Ich will damit nur sagen, dass es keine Messlatte für Unglück gibt. Unglück ist relativ.«
»Arme Katerina Lemuskaja«, sagte ich und weinte ganz bitterlich über Katerina Lemuskajas schweres Schicksal, auch wenn es sie gar nicht gab. Und dann fing auch noch mein Backenzahn wieder an zu schmerzen.
***
Nicht alle Leute waren sauer auf mich, weil ich noch lebte. Ein paar freuten sich auch. Das sagte jedenfalls Ulrich, der die meisten Telefonanrufe an diesem Wochenende entgegennahm. Meine Schwestern riefen an, Caroline und Bert, Marta und Marius, Tante Alexa und Cousin Harry. Alle wollten mir sagen, dass sie froh waren, dass ich noch lebte. Das jedenfalls behauptete Ulrich. Ich wagte mich nicht ans Telefon, ich schüttelte nur stumm den Kopf, wenn er mir den Hörer hinhielt. Ich konnte unmöglich mit jemandem sprechen. Ich schämte mich in Grund und Boden. Und ich war ziemlich sicher, dass weder Tante Alexa noch Cousin Harry etwas Nettes zu mir hatten sagen wollen. Wahrscheinlich auch Lulu und Tine nicht.
»Gerri ruft später zurück«, sagte Ulrich und machte sich Notizen wie eine gute Sekretärin. Ab und zu gab er mir eine kleine Zusammenfassung:»Lulu fragt, ob du noch die E-Mail-Adresse von einem gewissen hammerhart31 hättest und ob die einunddreißig das bedeutet, was sie denkt, dass es bedeuten soll. Tine will wissen, welche Batterien der MP3-Player braucht, und Cousin Harry hat gesagt, dass du jetzt doch nicht zwischen Franziska und Onkel Gustav an der Reihe bist, sondern erst nach einer gewissen Gabi, die kurzfristig doch zugesagt hat.«
Das ganze Wochenende saß oder lag ich in Charlys Übungsraum – dem künftigen Kinderzimmer – auf dem Sofa und starrte an die Wand oder die Decke. Die Jalousien waren herabgelassen, und ich konnte nicht sehen, ob es Tag oder Nacht war. War im Grunde auch egal.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber jetzt ging es mir tatsächlich noch viel schlechter als vor dem Selbstmord. Vor dem misslungenen Selbstmord, meine ich. Von wegen gute Planung! Auf mein angebliches Organisationstalent brauchte ich mir wirklich nichts einzubilden. Eine gute Planung schloss immer auch das Unvorhersehbare mit ein, das hätte mir doch klar sein müssen. Ich hätte zumindest einen Plan B schmieden sollen.
Wenigstens hatten die Zahnschmerzen wieder aufgehört.
Ich starrte an die Decke. Vor ein paar Jahren hatten wir das Zimmer mit Eierkartons isoliert, damit die Nachbarn nicht von Charlys Gesang gestört wurden. Sie sahen etwas seltsam aus, wie sie so dicht an dicht an der Wand und der Decke klebten, und Charly
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