Für Leichen zahlt man bar
T’ang -Dynastie halten
können. Ihr ganzes Wesen, der Ausdruck ihres Gesichtes strahlten Autorität aus.
Durch ihr Haar zogen sich graue Strähnen, und ein feines Netz von Fältchen
unter den durchdringenden schwarzen Augen verriet, daß sie nicht mehr jung war.
Ich schätzte sie auf 50 oder etwas darüber oder darunter. Den Stehkragen ihres
langen schwarzseidenen Tunikakleides hielt eine
Jadebrosche mit feiner Goldeinfassung zusammen.
»Es ist mir immer eine Freude,
einen von Jonathans Freunden kennenzulernen, Mr. Boyd .« Ihre Stimme klang spröde und fast männlich-dunkel. »Vielen Dank !« erwiderte ich höflich. Sie hob mit einer
schmetterlingshaft leichten Bewegung ihre schmale rechte Hand. Der kleine Mann
hinter ihrem Stuhl nahm Habachtstellung ein und trat zwei Schritte vor, so daß
er jetzt direkt neben ihr stand.
»Dies ist mein Assistent«,
stellte Madame Choy vor. »Bruce Tremaine !«
In der Größe paßte Tremaine ausgezeichnet zu
seiner Chefin. Er war ein Mann von zartem Knochenbau, wenig über 1,50 Meter
groß. Er hatte ein kleines Spitzmausgesicht, und ein paar Strähnen seines
silberblonden Haares, die zu lang geraten waren, fielen ihm ständig in die
Stirn. Seine Augen waren blau und wirkten ein wenig verwaschen. Sie waren
pausenlos in Bewegung wie zwei zuckende blaue Irrlichter.
»Sehr angenehm, Mr. Boyd«,
sagte er mit dünner Piepsstimme .
»Judith sagte mir, daß Sie sich
Sorgen wegen Jonathan machen«, sagte Madame Choy lebhaft. »Sie waren mit ihm hier verabredet ?«
»Ja«, meinte ich zustimmend,
»aber er hat es vielleicht vergessen .«
»Wenn das so ist, muß ich mich
an seiner Stelle bei Ihnen entschuldigen, Mr. Boyd«, sagte sie mit ihrer
spröden Stimme. »Aber er ist sonst nicht so vergeßlich .
Es ist eine seltsame Geschichte .«
»Wahrscheinlich ist er irgendwo
aufgehalten worden«, versuchte ich die Angelegenheit leichthin abzutun. »Es tut
mir leid, daß auch Sie sich jetzt Gedanken machen, Madame Choy !«
»Hoffentlich ist Jonathan
nichts passiert«, meinte Tremaine ängstlich, und
seine blauen Augen irrlichterten aufgeregt hin und her.
Madame Choy bewegte kaum merklich ihre schmale Hand, und er zog sich hastig wieder hinter
ihren Stuhl zurück.
»Sollte man Ihrer Meinung nach
dem Nichterscheinen von Jonathan nachgehen, Mr. Boyd ?« fragte sie.
»Die Verabredung war nicht
weiter wichtig«, sagte ich und lächelte ihr verlegen zu. »Wenn ich es mir recht
überlege, bin ich fast überzeugt davon, daß Jonathan die Verabredung einfach
vergessen hat .«
Ihre dunklen Augen hielten die
meinigen einige Sekunden lang fest. »Nun gut«, entschied sie schließlich. »Ich
hoffe, daß Sie an Ihrer ersten Begegnung mit unserer Gesellschaft Vergnügen
hatten, Mr. Boyd. Vielleicht entschließen Sie sich sogar, ihr später einmal
beizutreten. Haben Sie besonderes Interesse an Jadeschmuck ?«
Ich streifte die stumme
Blondine neben mir mit einem raschen Blick und sagte dann: »In gewisser Weise
schon !«
»Dann sollten Sie jetzt
hinuntergehen und sich mit Wyatt Thorpe unterhalten .« Der Tonfall ihrer Worte machten auch dem Dümmsten klar, daß dies ein Befehl und
kein Vorschlag war . »Er ist ein eingebildeter alter
Trottel«, fügte sie ganz gelassen hinzu, »aber von Jade versteht er etwas. Gute
Nacht, Mr. Boyd!«
»Gute Nacht, Madame Choy . Mr. Tremaine —«
Sein Mund war zu einer Antwort
schon halb geöffnet, aber mitten in der Bewegung hielt er inne und betrachtete
ängstlich Madame Choys Hand. Sie regte sich nicht.
Wortlos klappte Tremaine den Mund wieder zu.
Ich folgte Judith zur Tür, die
sie schon geöffnet hatte, als Madame Choy mich aufhielt.
»Jonathan hat bisher von Ihnen noch nie gesprochen, Mr. Boyd, aber
wahrscheinlich kennen Sie sich von Tahiti her, nicht wahr ?«
»Hawaii«, verbesserte ich
beiläufig. »In Tahiti war ich noch nicht .«
»Verzeihen Sie meine Neugierde,
Mr. Boyd .«
Judith war schon draußen, und
ich stand auf der Schwelle, als Madame Choy sagte:
»Kennen Sie zufällig einen Mann namens Lucas Blair, Mr. Boyd ?«
Ich wandte mich um. Ihre
tiefliegenden schwarzen Augen durchbohrten mich förmlich, während sie gespannt
auf meine Reaktion wartete.
»Lucas Blair ?« wiederholte ich nachdenklich. Dann schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich glaube
nicht. Habe ich etwas versäumt ?«
Sie spielte mit der Brosche an
ihrem Kragen, während ihr Blick meine Augen nicht losließ. Dann sagte sie
entschieden: »Nein, Mr. Boyd; ich möchte nicht annehmen,
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