Für Nikita
einen
Stuhl heran, setzte sich ihr gegenüber und fragte leise: »Möchtest du einen Tee?«
»Grischa, was ist mit dir los?« Sie fing seinen Blick auf. Er schloß erschöpft die Augen und lehnte sich zurück.
»Verzeih mir, mein Mädchen. Ich bin total erschöpft.«
»Ich weiß.« Sie nickte. »Aber warum mußt du mich anschreien?«
»Ein Ausrutscher, ich bin mit den Nerven am Ende. Meinst du, ich könnte seelenruhig zusehen, wie du begeistert sein letztes
Meisterwerk verschlingst? Seine Heldinnen sehen übrigens alle gleich aus, und zwar haargenau wie du, Nika.«
»Moment mal, Grischa, woher weißt du das? Ich denke, du liest seine Bücher nicht«, sagte Nika kaum hörbar.
»Na, nun nimm das doch nicht so wörtlich.« Er schluckte und leckte sich nervös die Lippen, aber seine Stimme klang beherrscht,
sogar ein wenig herablassend. »Ich habe ein paar von seinen Büchern durchgeblättert. Übrigens weiter nichts Besonderes.«
»Wie kannst du das beurteilen, wenn du sie nur durchgeblättert hast?«
Russow log. Den »Triumphator« hatte er vor drei Monaten gelesen, im Manuskript, beziehungsweise den Computerausdruck, den
er vom Verlag bekommen hatte. Er bekam alle Romane von Viktor Godunow, einem der meistgelesenen Autoren Rußlands, umgehend,
sobald der Cheflektor die Diskette mit dem fertigen Text in der Hand hatte.
Russow war einer der Anteilseigner des Verlagskonzerns »Kaskad«, in den er eine Menge Geld investiert hatte.
»Willst du mich etwa überreden, seine Bücher zu lesen? Es reicht doch, daß du dich gar nicht davon losreißen kannst. Ich hoffe
nur, daß dich ausschließlich die Bücher interessieren und nicht der Autor persönlich.«
»Zeit zum Schlafengehen. Ich muß um sieben aufstehen. Ich habe morgen Dienst im Krankenhaus.«
»Dienst«, knurrte Russow. »Wir haben den Jungen nicht deshalb in die Schweiz geschickt, damit du wieder zur Arbeit rennst.«
»Wir haben Mitja vor allem deshalb dorthin geschickt, damit er eine gute Ausbildung bekommt und sich nicht mit den Kindern
der ›neuen Russen‹ rumtreibt. Was hat das mit meiner Arbeit zu tun?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Nika ins Bad. Sie war ein ruhiger, nachgiebiger Mensch, aber in letzter Zeit bewegten sie
und ihr Mann sich ständig am Rande eines Konflikts. Es gab mittlerweile zwischen ihnen zu viele Tabuthemen, die sie nicht
berühren durften.
Ihr zehnjähriger Sohn Mitja besuchte ein Internat in der Schweiz. Russow befürchtete, in Sinedolsk würde der Junge keine vernünftige
Schulbildung erhalten und sich zu einem verwöhnten, launischen Kind entwickeln, weil er als Sohn des Gouverneurs sowieso immer
gute Zensuren bekäme. Nika gab ihm recht, auch wenn Mitja ihr sehr fehlte. Was allerdings ihre Arbeit anging, darüber waren
sie beide völlig verschiedener Ansicht.
Als klar wurde, daß Russow die Gouverneurswahlen gewinnen würde, überlegte Nika nicht lange und bot dem Chefarzt des Regionskrankenhauses
ihre Dienste als Unfallchirurgin an.
Das Krankenhaus brauchte dringend Fachärzte, dauernd kündigten Leute, das miserable Gehalt wurde unregelmäßig gezahlt, es
fehlte an Medikamenten und technischer Ausrüstung. Eine so hochqualifizierte Chirurgin wie Nika war für das Krankenhaus ein
wahrer Segen. Außerdem würde die First Lady der Region sich kaum aufregen, wenn das mickrige Gehalt lange ausblieb. Und wegen
der fehlenden Medikamente würde sie mit ihrem Gatten reden – der Gouverneur fand bestimmt eine Möglichkeit, das Krankenhausmit allem Notwendigen zu versorgen. Kurz, der Chefarzt war von der Idee ebenso angetan wie Nika selbst.
Russow war entschieden dagegen und erklärte Nika, es sei vollkommen absurd, wenn die Frau des Gebietsobersten gebrochene Gliedmaßen
richtete und eingeschlagene Schädel reparierte. Sie hatte an offiziellen Veranstaltungen teilzunehmen, ihren Mann auf Reisen
und Empfängen zu begleiten.
Doch Nika wollte keine typische Regions-First-Lady werden. Sie hatte keine Lust, mondäne Wohltätigkeit zu mimen, im Troß,
begleitet von Leibwächtern und niederen Verwaltungschargen, Kinderheime, Strafkolonien für Minderjährige und Heime für verlassene
alte Menschen zu besuchen, vor laufender Kamera verlegenen Waisenkindern Snickers und Barbiepuppen zu überreichen, den unglücklichen
Kindern über den Kopf zu streichen, sich zu ihnen zu hocken und zu fragen: Wo ist denn deine Mama, mein Kind? Kriegt ihr hier
auch gut zu essen, Kinder?
Nach
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