Für Nikita
schäbigen Hotel bei Antalya deine
Sachen aus.
»Zum Bahnhof«, erklärte er.
»Fünfhundert«, reagierten alle drei sofort.
»Dreihundert«, widersprach Nikita.
Zwei wandten sich ab, mit dem dritten einigte er sich auf vierhundert.
Die morgendliche Straße war fast leer. Links und rechts erstreckte sich die Taiga. Langsam ging die Sonne auf, pralle Strahlen
drangen durch braunen Tann und blassen Sumpfnebel. Nikita fielen nach fünf Stunden schlechten, unbequemen Schlafs im Flugzeug
die Augen zu, doch das lebhafte Vogelzwitschern und der feuchte frische Wind ließen ihn nicht einschlafen. Aber das Fenster
schließen mochte er nicht – der Duft der Taiga an diesem Maimorgen tat wohl.
Sie erreichten einen Industrievorort: Öde Fünfgeschosser, schwarze Fabrikschornsteine. Am Straßenrand ein großes, farbenfrohes
Plakat. In der Region war gerade der Wahlkampf zu Ende gegangen. Einer der drei Kandidaten sah den Vorbeifahrenden aufrichtig
nachdenklich an. Unter der Gürtellinie leuchteten feuerrote Lettern: »Ehre und Gewissen«. Alle Medien kündeten vom Sieg dieses
Kandidaten, der seine beiden Konkurrenten weit hinter sich gelassen hatte.
Nikita bezahlte sein Taxi, betrat das alte, aus dem vorigen Jahrhundert stammende Bahnhofsgebäude und begegnete erneut dem
aufrichtigen Blick des siegreichen Kandidaten.Diesmal trug er ein offenes Jackett und statt der grauen eine karierte Krawatte. Der Text war nicht rot, sondern blau, handgeschrieben,
aber zehnfach vergrößert: »Wir werden leben, Freunde!« Eine klare, rundliche Schrift, aufrechte Buchstaben und daneben ein
hübsches Autogramm.
Die Anzeigetafel war außer Betrieb. Im Wartesaal befanden sich so wenige Menschen, daß Nikita erschrak und fürchtete, daß
überhaupt keine Züge fuhren.
»Wann fährt der nächste Zug nach Kolpaschewo?« fragte er am einzigen geöffneten Schalter.
»In einer halben Stunde«, antwortete die Fahrkartenverkäuferin nach einem Gähnen. »Zweihundert Rubel.«
Als der Zug an der kleinen Bahnstation Kolpaschewo hielt, dämmerte es bereits. Nikita ging sofort zur Anlegestelle. Sie war
leer. Vor dem Kassenfenster hing ein großes, rostiges Vorhängeschloß. Nirgends entdeckte er etwas, das aussah wie ein Fahrplan.
Neben der Kasse klapperte eine ausgebleichte Sperrholztafel im Wind. Die Sicherheitsvorschriften für den Flußverkehr.
»Der Dampfer nach Pomchi geht erst morgen nachmittag«, erklärte ihm ein einsamer Angler in hohen Gummistiefeln, der ein Stück
abseits im Wasser stand.
Im trüben Dämmerlicht und bei Nieselregen wirkte das Städtchen Kolpaschewo öde und verschlafen. Morsche Brettersteige, vereinzelte,
demolierte Straßenlampen, hohe Zäune aus dicken, ungehobelten Bohlen. Auf dem zentralen Platz, vor dem Betongebäude des einstigen
Stadtkomitees der Partei, reckte ein mit Vogelkot bekleckerter Lenin den Arm gen Osten. Ein stiller kleiner Markt: ein paar
Kaukasier mit Äpfeln und Granatäpfeln, die wie Attrappen aussahen, ein halbes Dutzend Chinesen mit billigem Ramsch, Omas mit
Salzgurken, Sauerkraut, Wollsocken und flauschigen Kopftüchern. In Bretterbuden daneben wurdenBrot und Importwurst verkauft. Auf die Frage nach einem Hotel verwiesen ihn die Omas an das frühere Parteihotel – vor bis
zum Kaufhaus und dann gleich rechts.
Er kaufte Gurken, Brot, eine Packung Importschinken und eine Flasche Mineralwasser.
Das ehemalige Parteihotel entpuppte sich als dreistöckiger Ziegelbau, nach dem ehemaligen Parteikomitee das zweitgrößte Gebäude
der Stadt. Drinnen war es relativ sauber. Im Foyer liefen Kaukasier in Trainingsanzügen und Pantoffeln herum, aus der halboffenen
Restauranttür drangen muntere Musik und betrunkenes Lachen.
»Einzelzimmer gibt’s nicht«, erklärte die Hotelmanagerin, »wenn Sie allein wohnen möchten, müssen Sie ein Doppelzimmer bezahlen.
Hundertfünfzig pro Tag.«
Endlich allein, fiel Nikita aufs Bett und schloß die Augen.
»Warum tue ich das alles?« fragte er sich in heiserem Flüsterton. »Etwa, um eine persönliche Rechnung zu begleichen? Im Namen
der Gerechtigkeit? Oder hat mich die dumpfe Verzweiflung des Piloten angesteckt, die einen erst handeln und dann nachdenken
läßt? Ich habe einen Haufen Geld ausgegeben. Ich riskiere womöglich mein Leben, denn wenn meine Vermutungen sich bestätigen
sollten, bringen sie mich garantiert um. Eine persönliche Rechnung? Ja, natürlich, das auch.«
Nikita reckte sich und lief barfuß
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