Für Nikita
der Ferne ertönte heiseres Tuten. Sofort sprangen die vom langen Warten zermürbten Menschen auf, und die Menge strömte
zur schmalen Tür.
»Geh schon vor, mein Sohn, halt mir einen Platz frei. Aber beeil dich nicht zu sehr, sonst wirst du zertrampelt«, sagte der
Alte.
Der Dampfer war klein und uralt, und Nikita fürchtete, das altersschwache Schiff würde so viele Menschen nicht verkraften.
Im Kielraum fand er Plätze für sich und den Alten. Der kam als einer der letzten, mit einem riesigen Pappkoffer.
»Vater Pawel!« rief Nikita.
»Ach, das ist schön«, freute sich der Alte, »hier ist es nicht kalt, und naß werden wir auch nicht. Oben an Deck, da bläst
ein Wind … Du willst also über die Natur schreiben? Interessiert das denn heutzutage noch jemanden?«
»Na ja, eigentlich schon.« Nikita nickte.
»Wenn ich eine Zeitung aufschlage, sehe ich nur Schmutz und Schund, Gott verzeih mir. In Sinedolsk, da hab ich bei meinem
Sohn ferngesehen. Nein, was sind das nur für Zeiten! Man weiß nicht, wann es schlimmer war – unter den Sowjets oder jetzt.
Bist du verheiratet?«
»Geschieden.«
»Eine Sünde. Hast du Kinder?«
»Eine Tochter, zwölf Jahre alt.«
»Wie heißt sie?«
»Mascha.«
»Ich hab drei. Söhne. Und schon fünf Enkel, aber sie sind alle weggezogen, die beiden älteren nach Sinedolsk, der Jüngste
nach Murmansk, er ist Maat auf einem Handelsschiff. Ist auch gut so, daß sie nicht in Gelbe Schlucht geblieben sind.« Vater
Pawel beugte sich näher zu ihm und flüsterte: »Das ist eine üble Gegend. Die Jungen verfallen dem Suff, nicht nur die Männer,
nein, sogar die Frauen. Wodka wird regelmäßig geliefert, spottbillig, trink, soviel du willst. Jetzt im Frühjahr sind gerade
erst drei Mann in der Moltschanka ertrunken, halbe Kinder, sie wollten in ihrem Suff mit dem Boot zur Mine rüber und sind
verschwunden. Einer wurde nach einer Woche gefunden, schwamm tot im Fluß. Wo die anderen beiden sind, weiß keiner.«
»Was für eine Mine?« fragte Nikita schnell und fühlte sein Herz heftiger schlagen.
»Na ja, keine richtige Mine, das heißt nur so. Ein toter Ort. Vorm Krieg war da ein Lager, da haben Häftlinge Goldgeschürft, aber jetzt … Ach, reden wir nicht darüber. Hier, siehst du«, sagte er laut und wies mit einem Kopfnicken auf den
riesigen abgeschabten Koffer zu seinen Füßen, »ich hab zwei Ikonen gekauft. In Sinedolsk. Die alten Ikonen sind ja weg, alle
gestohlen. Aber nun ist die Kirche frisch renoviert, wir haben Gitter vor den Fenstern und sogar eine Alarmanlage, stell dir
vor! Ich kann mich gar nicht genug freuen, wie schön unsere Kirche jetzt ist.«
»Ist die Gemeinde groß?«
»Ach wo! Zehn Leute.«
Interessant, von welchem Geld wurde dann die Kirche renoviert und sogar eine Alarmanlage eingebaut, wenn die Gemeinde so klein
ist, dachte Nikita. Eine versoffene Siedlung, eine Mine … Ich glaube, ich vermute richtig.
Der Dampfer erreichte die Siedlung in der Dämmerung. Unter den Passagieren, die ausstiegen, bemerkte Nikita sofort zwei Kahlgeschorene
in schwarzem Leder und mit breiten, durchtrainierten Schultern. Sie waren angeheitert und ohne Gepäck; an der Anlegestelle
erwartete sie ein Militärjeep.
»Die da, das sind die Herren hier«, flüsterte der Pope und nickte zu den beiden hinüber. »Komisch, daß sie mit dem Dampfer
gekommen sind. Normalerweise nehmen sie den Hubschrauber. Obwohl, ist ja kein Flugwetter, bei dem Nebel.«
Nikita griff nach Vater Pawels Koffer, der trotz seiner gewaltigen Ausmaße ganz leicht war. Sie liefen über glitschigen Lehm
hinauf zur Siedlung, zur Hauptstraße, wenn man eine Reihe schwarzer Pfahlzäune so nennen konnte.
Die wenigen Straßenlampen warfen nur einen trüben Schein, doch am Ende der Straße strahlte mitten in der Finsternis in hellem
weißem Licht ein Glaswürfel, an dem eine feuerrote Leuchtschrift verkündete: »Lebensmittel«. Davorstanden ein paar Frauen und Männer, die sich kaum auf den Beinen halten konnten. Sie strömten einen heftigen Alkoholdunst
aus.
»Heute gibt’s den Wodka fast umsonst«, erklärte Vater Pawel. »Er ist sowieso spottbillig, aber feiertags ist er so gut wie
umsonst.«
»Wer sorgt denn so für euch?« fragte Nikita gleichgültig.
»Ach, frag lieber nicht, mein Sohn.« Er seufzte schwer und flüsterte Nikita ins Ohr: »Die Banditen, jawohl.«
»Und warum tun sie das?«
»Sie wissen, warum. Frag nicht, mein Sohn. Das ist nicht gut. Weder
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