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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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der Ferne ertönte heiseres Tuten. Sofort sprangen die vom langen Warten zermürbten Menschen auf, und die Menge strömte
     zur schmalen Tür.
    »Geh schon vor, mein Sohn, halt mir einen Platz frei. Aber beeil dich nicht zu sehr, sonst wirst du zertrampelt«, sagte der
     Alte.
    Der Dampfer war klein und uralt, und Nikita fürchtete, das altersschwache Schiff würde so viele Menschen nicht verkraften.
     Im Kielraum fand er Plätze für sich und den Alten. Der kam als einer der letzten, mit einem riesigen Pappkoffer.
    »Vater Pawel!« rief Nikita.
    »Ach, das ist schön«, freute sich der Alte, »hier ist es nicht kalt, und naß werden wir auch nicht. Oben an Deck, da bläst
     ein Wind … Du willst also über die Natur schreiben? Interessiert das denn heutzutage noch jemanden?«
    »Na ja, eigentlich schon.« Nikita nickte.
    »Wenn ich eine Zeitung aufschlage, sehe ich nur Schmutz und Schund, Gott verzeih mir. In Sinedolsk, da hab ich bei meinem
     Sohn ferngesehen. Nein, was sind das nur für Zeiten! Man weiß nicht, wann es schlimmer war – unter den Sowjets oder jetzt.
     Bist du verheiratet?«
    »Geschieden.«
    »Eine Sünde. Hast du Kinder?«
    »Eine Tochter, zwölf Jahre alt.«
    »Wie heißt sie?«
    »Mascha.«
    »Ich hab drei. Söhne. Und schon fünf Enkel, aber sie sind alle weggezogen, die beiden älteren nach Sinedolsk, der Jüngste
     nach Murmansk, er ist Maat auf einem Handelsschiff. Ist auch gut so, daß sie nicht in Gelbe Schlucht geblieben sind.« Vater
     Pawel beugte sich näher zu ihm und flüsterte: »Das ist eine üble Gegend. Die Jungen verfallen dem Suff, nicht nur die Männer,
     nein, sogar die Frauen. Wodka wird regelmäßig geliefert, spottbillig, trink, soviel du willst. Jetzt im Frühjahr sind gerade
     erst drei Mann in der Moltschanka ertrunken, halbe Kinder, sie wollten in ihrem Suff mit dem Boot zur Mine rüber und sind
     verschwunden. Einer wurde nach einer Woche gefunden, schwamm tot im Fluß. Wo die anderen beiden sind, weiß keiner.«
    »Was für eine Mine?« fragte Nikita schnell und fühlte sein Herz heftiger schlagen.
    »Na ja, keine richtige Mine, das heißt nur so. Ein toter Ort. Vorm Krieg war da ein Lager, da haben Häftlinge Goldgeschürft, aber jetzt … Ach, reden wir nicht darüber. Hier, siehst du«, sagte er laut und wies mit einem Kopfnicken auf den
     riesigen abgeschabten Koffer zu seinen Füßen, »ich hab zwei Ikonen gekauft. In Sinedolsk. Die alten Ikonen sind ja weg, alle
     gestohlen. Aber nun ist die Kirche frisch renoviert, wir haben Gitter vor den Fenstern und sogar eine Alarmanlage, stell dir
     vor! Ich kann mich gar nicht genug freuen, wie schön unsere Kirche jetzt ist.«
    »Ist die Gemeinde groß?«
    »Ach wo! Zehn Leute.«
    Interessant, von welchem Geld wurde dann die Kirche renoviert und sogar eine Alarmanlage eingebaut, wenn die Gemeinde so klein
     ist, dachte Nikita. Eine versoffene Siedlung, eine Mine … Ich glaube, ich vermute richtig.
    Der Dampfer erreichte die Siedlung in der Dämmerung. Unter den Passagieren, die ausstiegen, bemerkte Nikita sofort zwei Kahlgeschorene
     in schwarzem Leder und mit breiten, durchtrainierten Schultern. Sie waren angeheitert und ohne Gepäck; an der Anlegestelle
     erwartete sie ein Militärjeep.
    »Die da, das sind die Herren hier«, flüsterte der Pope und nickte zu den beiden hinüber. »Komisch, daß sie mit dem Dampfer
     gekommen sind. Normalerweise nehmen sie den Hubschrauber. Obwohl, ist ja kein Flugwetter, bei dem Nebel.«
    Nikita griff nach Vater Pawels Koffer, der trotz seiner gewaltigen Ausmaße ganz leicht war. Sie liefen über glitschigen Lehm
     hinauf zur Siedlung, zur Hauptstraße, wenn man eine Reihe schwarzer Pfahlzäune so nennen konnte.
    Die wenigen Straßenlampen warfen nur einen trüben Schein, doch am Ende der Straße strahlte mitten in der Finsternis in hellem
     weißem Licht ein Glaswürfel, an dem eine feuerrote Leuchtschrift verkündete: »Lebensmittel«. Davorstanden ein paar Frauen und Männer, die sich kaum auf den Beinen halten konnten. Sie strömten einen heftigen Alkoholdunst
     aus.
    »Heute gibt’s den Wodka fast umsonst«, erklärte Vater Pawel. »Er ist sowieso spottbillig, aber feiertags ist er so gut wie
     umsonst.«
    »Wer sorgt denn so für euch?« fragte Nikita gleichgültig.
    »Ach, frag lieber nicht, mein Sohn.« Er seufzte schwer und flüsterte Nikita ins Ohr: »Die Banditen, jawohl.«
    »Und warum tun sie das?«
    »Sie wissen, warum. Frag nicht, mein Sohn. Das ist nicht gut. Weder

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