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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken, und pfiff die ersten Akkorde des »Türkischen
     Marschs«, dann blieb sie abrupt vor Nikita stehen und fragte: »Magst du Gras rauchen?«
    »Nein. Danke.«
    »Aber ich.«
    Sie schüttelte den Tabak aus einer Papirossa auf eine Untertasse, gab zerkleinertes Gras dazu und stopfte diese Mischung geschickt
     wieder zurück in die Papierhülse. Nikita, dem in dem abgeschabten Sessel unter einer speckigen Steppdecke warm geworden war,
     schlief schon fast und hatte das Gefühl, er sei zurückgekehrt in die Zeit vor fünfzehn Jahren und ihm gegenüber, auf der räudigen
     Liege, sitze Nika, dünn, aufrecht, im engen schwarzen Rollkragenpulli – seine Nika, damals noch keine Verräterin, noch nicht
     die Frau von Grischa Russow.
    »Ich fahre morgen abend nach Petersburg. Wenn du willst, kannst du hier wohnen. Ich bleibe einen Monat weg.«
    »Sind dreihundert Dollar in Ordnung?«
    »Also wirklich, Rakitin!« Sie stieß einen Pfiff aus und legte den Finger an die Schläfe. »Du spinnst ja total!«
    »Und wenn ich dir das Geld schenke, einfach so?«
    »Beine hoch!« befahl Sina. »So« – sie stellte ihm einen Hocker unter die Beine –, »solange ich noch hier bin, mußt du im
     Sessel schlafen, tut mir leid. Ich hab nur eine Liege. Geld nehme ich von dir nicht, Rakitin. Du kannst hier wohnen, solange
     du willst. Ich will auch gar nicht wissen, warum, das ist mir egal. Ich weiß, wenn du es für nötig hältst, wirst du es mir
     schon erzählen. Und wenn nicht – dann eben nicht.«
    »Ich erzähl’s dir«, murmelte Nikita. »Aber erst muß ich ein bißchen schlafen.«
    Er hatte nur kurz an Nika denken müssen, und schon ging sie ihm nicht mehr aus dem Sinn. Plötzlich wünschte er sich, sie wenigstens
     im Traum einmal wiederzusehen.
    Die siebenunddreißigjährige strenge Dame mit dem schweren Haarknoten im Nacken und den kalten, klaren hellbraunen Augen. Die
     Verräterin Nika. Russows Frau. Die Mutter von Russows Kind. Veronika Jelagina, Doktor der Medizin, Unfallchirurgin. Das Mädchen
     Nika, seine erste und letzte Liebe.
    Er sank in den Schlaf wie in einen Abgrund und träumte lauter wirres Zeug. Zum zehntenmal erlebte er in einem ausführlichen
     Alptraum, wie auf dem Leningrader Prospekt auf ihn geschossen wurde. Außerdem sah er die weiß gefliesten Wände der Kinderpsychiatrie
     vor sich und das kreidebleiche Gesicht des Jungen Fedja Jegorow, seine erschreckend leeren blauen Augen und das satanistische
     Pentagramm auf der entzündeten Haut unter dem spitzen kindlichen Schlüsselbein, und in seinen Ohren klang das monotone Stimmchen:
     »Gelbe Schlucht, die Sonnenstadt …«
    Er war nicht umsonst nach Westsibirien geflogen, nicht umsonst hatte er diesen schrecklichen Ort aufgesucht, die versoffene
     kleine Siedlung Gelbe Schlucht.

Fünftes Kapitel
    Der Flughafen in der sibirischen Regionshauptstadt war groß und pompös, nach dem Vorbild des internationalen Moskauer Flughafens
     Scheremetjewo, bloß ohne den Hauch der großen weiten Welt. Gesichter, Schaufenster und Werbetafeln hatten etwas Provinzielles,
     das in der grauen Morgendämmerung besonders ins Auge fiel.
    Im Mund der verschlafenen Verkäuferin im Valutasupermarkt funkelte ein goldener Schneidezahn, der aufgedunsene Büfettier stapelte
     angegraute belegte Brote vom Vortag auf dem Tresen, die schwarz geflieste Pachttoilette stank erbärmlich.
    Als Nikita an einem Bücherwühltisch vorbeikam, registrierte er mechanisch unter den sadistisch gestalteten Taschenbüchern
     auch einige seiner eigenen Bücher, wandte sich ab und beschleunigte seine Schritte. Buchhändler erkannten ihn am schnellsten
     als den Schriftsteller Viktor Godunow.
    Lautlos öffnete sich die Glastür, er trat ins Freie, und sofort steuerten von allen Seiten kräftige Männer in Lederjacken
     auf ihn zu.
    Hallo, Jungs, dachte er spöttisch und versuchte sich vorzustellen, wie sich die pfiffigen Helden seiner Krimis in einer solchen
     Situation verhalten würden.
    »Taxi gefällig?« Der erste Lederjackentyp zwinkerte ihm zu.
    »Wohin soll die Fahrt gehen, Chef?« erkundigte sich der zweite und drehte lässig die Autoschlüssel in der Hand.
    Inzwischen war auch schon der dritte da und bot ebenfalls seine Dienste an.
    Du bist ein Idiot, Herr Schriftsteller, tadelte sich Nikita, deine Helden sind wesentlich klüger. Überleg doch mal, wer soll
     hier schon was von dir wollen? Du bist schließlich in der Türkei und packst gerade in einem

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