Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
ja ein ganz Gebildeter, von wem ist er denn? Komisch,
     der Boris hat doch nur Petka, aber dem fehlen drei Finger, die hat er sich im Suff mit der Axt abgehackt, und die Ninka, die
     hat zwei Mädchen …«
    »Er ist nicht der Neffe von Klawdija«, rettete Xenija die Lage, »sondern meiner. Mein Großneffe. Du hast das falsch verstanden,
     trinkst schon früh am Morgen und kriegst nicht mit, was man sagt.«
    »Ach ja, ach ja!« Die Schwiegertochter nickte heftig. »Und was will er bei Klawdija?«
    »Das Dach reparieren«, knurrte die Försterfrau.
    »Ach ja, das Dach? Das hat dir doch mein Sanka gemacht, für eine Flasche Wodka. Der Stadtmensch hier, guck dir bloß mal seine
     Hände an, was kann der schon reparieren?«
    »Ich hab Tischler gelernt«, meldete sich Nikita.
    Irgendwie wurden sie die Schwiegertochter schließlich los, aber ein ungutes Gefühl blieb – zu Recht. Während Nikita mit der
     Försterfrau durch die Taiga lief, wußten alle Stammgäste des gläsernen Lebensmittelladens bereits, daß die Popin Besuch hatte
     von ihrem Neffen. Ein gebildeter, dünner, weißblonder Städter, den niemand je zuvor beim Popen und seiner Frau gesehen hatte.
     Und jetzt lief er auch noch mit der alten Klawdija zwanzig Kilometer zu Fuß durch die Taiga, angeblich, um ihr Dach zu reparieren.
     
    Über der Taiga hing eine schwere Abenddämmerung. Es war kalt vom Abendtau.
    Die Försterfrau drehte sich um. »Bist du müde?«
    »Ein bißchen«, gestand Nikita.
    »Hast du Angst vor Toten?«
    Er spürte schon seit einer ganzen Weile den merkwürdigen süßlichen, für die Taiga fremdartigen Geruch, der mit jedem Schritt
     stärker wurde und eine eigentümliche schwere Übelkeit auslöste. Die Taiga lichtete sich, und sie standen am Ufer der Moltschanka.
     Der Boden war naß und schmatzte unter ihren Füßen wie Sumpf.
    Nikita packte die Kamera aus. Seine Hände zitterten. Er konnte nicht hinsehen, nicht atmen. Die Försterfrau war zurückgeblieben.
     Durch das Objektiv sah er Gesichter – Kinder, Frauen. Sie waren gut erhalten, sie hatten mehrere Monate in der gefrorenen
     Erde gelegen, danach im eiskalten Wasser, und die Bären hatten sie noch nicht entdeckt, außerdem gab es hier sowieso keine,
     sagte die Försterfrau, es war viel zu laut – die Hubschrauber, und manchmalwurde sogar geschossen. Die Wachleute der Mine gingen in ihrer Freizeit gern jagen, und die Taigatiere machten um diesen Ort
     einen großen Bogen.
    Das Blitzlicht zuckte, dann wieder und wieder. Die Kamera hielt nicht nur Gesichter fest. Durch das Objektiv sah Nikita eine
     junge Frau in zerrissenen Kleidern. Auf ihrer Brust, dicht unterm Schlüsselbein, prangte ein schwarzes Pentagramm, ein fünfzackiger
     Stern in einem Kreis.
    »Ein Hubschrauber!« hörte Nikita Klawdija schreien. »Lauf zum Wald!«
    Er riß die Kamera herunter und sah sich verstört um. Dicht über den Kiefernwipfeln kamen drei riesige weiße Lichter auf ihn
     zu. Er stand am offenen Flußufer und konnte nicht atmen. Seine Beine versanken bis zu den Waden im eiskalten, aufgeweichten
     Boden.
    »Lauf, Junge!« rief die Försterfrau, aber ihre schwache Stimme versagte beim ersten Schrei, und heraus kam nur ein heiseres
     Flüstern, das Nikita durch den Lärm des Hubschraubers nicht hören konnte. Er rannte rein instinktiv zum Wald, um sich vor
     den weißen Lichtern zu verstecken. Natürlich bemerkte er nicht, daß er dabei die bunte, glänzende Verpackung eines Kodakfilms
     fallen ließ.
    »Alles gut, mein Lieber, beruhige dich.« Die Försterfrau strich ihm mit ihrer rauhen Hand über die Wange. »Wir gehen nach
     Hause und trinken heißen Tee. Und Schnaps. Morgen früh bringe ich dich zur Chaussee, da nimmt dich bestimmt jemand mit nach
     Pomchi, und von da fährst du mit der Fähre nach Kolpaschewo. Nach Gelbe Schlucht geh nicht zurück. Ich weiß nicht, ob sie
     dich gesehen haben oder nicht, aber geh lieber nicht zurück.«
    Er erinnerte sich nicht mehr, wie er bis zum Haus der Försterfrau gekommen war. Die Petroleumlampe flackerte,im Ofen knisterten fröhlich Holzscheite. Die Alte reichte ihm ein Glas; klappernd schlugen seine Zähne gegen den Rand. Vom
     Schnaps ließen das Zittern und die Übelkeit ein wenig nach.
    »Kriech auf den Ofen. O je, wie du zitterst … Schlaf jetzt. Hier, nimm noch einen Schluck, und dann schlaf. Wir gehen morgen
     ganz früh los, im Morgengrauen. Wer weiß, ob sie nicht auch hierherkommen, die Unmenschen. Vielleicht haben sie ja vom

Weitere Kostenlose Bücher