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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Blut.
    Früh bekamen die Babys Milch mit flüssigem »Stoff« oder mit zerstampften Pillen drin. Damit sie schliefen undnicht schrien. Wenn sie schrien, konnte man nicht arbeiten. Da regten sich die Leute in der Metro auf, wurden sauer.
    Manche Babys waren so schwach, daß sie von allein den ganzen Tag schliefen, ohne irgendwas. Das sparte auch. Andererseits
     lebten die Schwachen nicht lange. Deshalb nahm Ira solche nicht gern. Einmal war ein Säugling auf ihrem Rücken gestorben.
     Sie hatte sich gegruselt mit dem toten Kind auf dem Rücken, aber was sollte sie machen? Solange die Tagesnorm nicht erfüllt
     war, mußte man eben durch die Wagen laufen.
    Jetzt trug Ira ein einjähriges Mädchen auf dem Rücken, wohlgenährt wie ein Spanferkel. Es zappelte und strampelte im Schlaf.
     Ira schleppte sich gebeugt durch den Wagen, sah den Fahrgästen in die Augen und blickte sich dauernd unruhig nach dem neuen
     Jungen um. Die Chefin hatte gesagt, sie solle auf ihn aufpassen. Er war seltsam, schlapp und dünn und total plemplem. Er konnte
     nicht reden, guckte nur starr geradeaus, aber Kommandos, die verstand er, die führte er brav aus. Man mußte bloß zu ihm sagen:
     »Geh und streck die Hand aus, dann wirft man dir Geld rein. Das gibst du hinterher mir.«
    Sie hatten ihn vor zwei Tagen auf dem Kasaner Bahnhof aufgelesen. Er saß in der Ecke, auf dem Fußboden. Ira hatte ihn zuerst
     bemerkt und ihn beobachtet. Es war kein Erwachsener in der Nähe. Vielleicht war er verlorengegangen, vielleicht hatte ihn
     jemand auch absichtlich ausgesetzt.
    Obwohl er dafür eigentlich schon zu groß war. Ausgesetzt wurden vor allem Säuglinge, die nicht hinterherlaufen konnten. Ira
     erwartete, daß gleich über Lautsprecher ausgerufen wurde: Achtung, ein Junge ist verlorengegangen. Aber das geschah nicht.
     Also suchte ihn niemand. Also wollte ihn keiner haben.
    Der Junge war gut angezogen – teure Jacke, Jeans,Schuhe –, ein typisches Hauskind. Sah aus wie acht. Ira war scharf auf seine Jacke. So eine wünschte sie sich schon lange,
     warm und leicht, mit echten Daunen. Ira hockte sich vor ihn und sah ihm ins Gesicht.
    Er war grünlichblaß und hatte die Augen geschlossen. Vielleicht war er bedröhnt oder richtig krank. Er würde nicht mal merken,
     wenn man ihn nackt auszog. Sie nestelte schon vorsichtig am Reißverschluß, aber ausgerechnet da kam Zigeuner-Borka angerannt
     und hinter ihm Opa Kossucha, einer von den Handlangern der Chefin. Sie erschrak, fürchtete, daß ihr die Jacke entgehen könnte,
     und zischte Borka an: »Die Jacke gehört mir, daß du Bescheid weißt. Die ist dir sowieso zu groß.«
    Bei der Chefin ließ lra durchblicken, daß sie den Jungen zuerst entdeckt hatte. Ein prima Fund, gut geeignet fürs Geschäft.
     Riesige blaue Augen, so groß wie Untertassen, ein klägliches Gesicht und vor allem: Er sagte kein Wort. In zwei Tagen aß er
     bloß zweimal – kaute ein Stück trocken Brot und trank Wasser dazu. Ira entdeckte auf seiner Brust unterm Schlüsselbein eine
     Tätowierung: ein Stern, der auf der Spitze steht, mit einem Kreis drumrum. Sie fragte ihn: »Was hast du da?«
    Er antwortete nicht. Na ja, bei so einem war fragen zwecklos, er sagte keinen Ton, war eben total plemplem. Ira verpaßte ihm
     einen Spitznamen: Der Tätowierte.
    Die Chefin lobte Ira und gab ihr seine Jacke, aber sie sollte sie ein bißchen zerreißen und schmutzig machen. Über den Tätowierten
     sagte sie: »Paß gut auf ihn auf, er ist so komisch, irgendwie angeschlagen.«
    Also paßte Ira auf. Zwei Tage lang lief alles bestens. Der Neue bekam viel. Er war auch wirklich ein herzerweichender Anblick:
     Lief rum wie ein Schlafwandler, streckte dieHand aus, sagte kein Wort, und dazu die riesigen blauen Augen.
    Der Zug fuhr in die Station »Komsomolskaja« ein. Ira trat dicht hinter den Neuen und flüsterte ihm ins Ohr, daß sie aussteigen
     mußten. Plötzlich sprang eine Oma auf und schrie lauthals los: »Fedja! Was machst du denn hier? Leute, ich kenne diesen Jungen!
     Wir müssen die Miliz rufen! Er wurde entführt! Fedja, was ist denn, erkennst du mich nicht? Ich bin doch Marja Danilowna,
     eure Nachbarin aus Wohnung zweiunddreißig!«
    Der Zug tauchte aus dem Tunnel. Ira stürzte aus dem Wagen, ohne sich umzusehen. Um Zigeuner-Borka machte sie sich keine Sorgen,
     der war zwar noch klein, erst fünf, aber ein fixes Kerlchen. Der kriegte sofort mit, wenn abhauen angesagt war. Und der Neue
     – tja, was sollte man da machen?

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