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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Hubschrauber
     aus was gesehen.«
    Er nahm einen letzten Schluck Schnaps und sank in einen schweren, ohnmachtähnlichen Schlaf wie in einen eiskalten Sumpf. Er
     träumte von den blinden weißen Lichtern und dem furchtbaren Massengrab.
    Im Morgengrauen weckte ihn die Alte und gab ihm Tee zu trinken. Bis zur Chaussee liefen sie zwei Stunden. Niemand verfolgte
     sie. Offenbar war sein Auftauchen am Ufer der Moltschanka unbemerkt geblieben.
    Beim Abschied gab er der Försterfrau Geld, fünfhundert Rubel.
    »Gott vergelt’s.« Sie nahm das Geld, ohne es zu zählen, und setzte nach einer kurzen Pause kaum hörbar hinzu: »Wenn ich bloß
     die Namen der Getöteten wüßte, dann könnte ich für ihren Seelenfrieden beten.«
    »Zwei Namen weiß ich. Oxana und Stanislaw«, sagte Nikita langsam. »Vielleicht sollte ich in der Stadt doch zur Miliz gehen?«
    »Lieber nicht, mein Sohn.«
    »Warum nicht?«
    Sie schwieg lange, ächzte, bewegte mümmelnd die eingefallenen Lippen, dann sagte sie: »Halt dich nirgends auf. Flieg weg von
     hier. Gott schütze dich.« Sie bekreuzigte ihn hastig und ging, verschwand in der Taiga, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Die Chaussee war leer. Nikita lief los in Richtung Pomchi. Erst nach einer halben Stunde nahm ihn ein Holztransporter mit
     und brachte ihn fast bis zur Dampferanlegestelle.
    Diesmal mußte er nicht lange warten. Schon bald saß er rauchend auf dem Hinterdeck und sah zu, wie das Sonnenlicht sich in
     den winzigen Wassertropfen brach – der Dampfer zog einen leuchtenden dünnen Regenbogen hinter sich her.
    Er überlegte mit ausgeruhtem Kopf, wo er Spuren hinterlassen haben könnte. Seine Ausweisdaten im Hotel in Kolpaschewo und
     die schwatzhafte Schwiegertochter. Sonst nichts. Vom Hubschrauber aus hatten sie ihn kaum bemerkt. Die Alten würden natürlich
     schweigen. Von der bunten Filmschachtel ahnte er nichts.
     
    In der Metro war es schön warm. Manchmal konnte man auf einer Bank ein bißchen schlafen. Wenn das einer der Chefin petzte,
     war’s nicht so schlimm. Ihr war egal, wieviel Stunden man arbeitete. Hauptsache, man schaffte die Norm.
    Die beste Zeit zum Arbeiten war spätvormittags und abends nach neun. Während der Hauptverkehrszeiten konnte man ruhig ein
     bißchen schlafen. Da kam man sowieso in keinen Wagen rein. Außerdem waren die Leute im Gedränge immer gereizt, schrien rum,
     schoben und stießen. Wenn sie bequem saßen und Zeitung lasen, war’s okay. Dann gab’s kein Schlafen, da wurde gearbeitet.
    »Liebe Fahrgäste, entschuldigen Sie, daß ich Sie anspreche. Meine Mama ist gestorben, nun leben wir zu fünft bei unserer alten
     Großmutter. Das Geld reicht nicht zum Essen. Geben Sie um Christi willen so viel, wie Sie können.« Ira sprach ihren Text in
     lautem Singsang, mit Betonung. Siewußte, wenn man zu sehr jammerte und heulte, verpuffte der Effekt. Man mußte so tun, als ob man sich schämte zu betteln.
    Aber jeder hat seine eigenen Methoden. Zigeuner-Borka fiel immer gleich auf die Knie und umklammerte die Beine der Leute.
     Krallte sich eine möglichst dicke Frau, und los ging’s: »Ta-antchen, ich hab Hu-unger, ein armes Waisenkind bittet um ein
     bißchen Geld für Brot!« Borka gaben sie immer was, aber wenig. Nicht aus Mitleid, sondern weil sie ihn loswerden wollten,
     damit er ihnen den Mantel nicht dreckig machte mit seiner Rotznase.
    Ira rutschte nie auf den Knien rum, kriegte aber mehr. Mit ihr hatten die Leute Mitleid. Iras wichtigster Trumpf war das Baby
     auf dem Rücken. Sie war selbst noch klein, sah mit ihren vierzehn aus wie zehn, und dann auch noch der Säugling auf ihrem
     Rücken, blaß und verdreckt. Gut, wenn er ganz klein und leicht war. Manchmal mußte sie auch ein Einjähriges nehmen, und das
     wog mindestens zehn Kilo. Die Babys wurden jeden Monat ausgewechselt. Anfangs hatten Ira die Babys leidgetan, sie wollte sie
     dauernd füttern und warm einpacken. Da war sie noch dumm gewesen. Da hatte sie noch nicht gewußt, daß man nur mit sich selber
     Mitleid haben darf, mit niemandem sonst.
    Die Babys wurden auf Bahnhöfen aufgesammelt, manchmal auch billig gekauft von heruntergekommenen Prostituierten, von Säuferinnen
     oder von Mädchen, die schon als Kinder an der Nadel hingen und nicht mehr durchsahen. Dafür hatte die Chefin einen Blick.
     Wenn sie eine Säuferin mit dickem Bauch rumlaufen sah, zahlte sie ihr gleich einen Vorschuß. Was wurde das schon für ein Kind?
     Das hatte doch Schnaps in den Adern statt

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