Für Nikita
Erst als sie den vertrauten großen hellbraunen Leberfleck auf der linken Hand des Mannes
entdeckte, schrie sie.
Eine Zeitlang war Sergej Jelagins Selbstmord ein populäres Thema. Im Literaturhaus und im Haus des Films wurden Gedenkveranstaltungen
abgehalten.
Beim Sichten der Archive stellte sich heraus, daß an fertiggestelltenGedichten höchstens ein dünnes Büchlein zusammenkam. Vollendete Szenarien gab es drei, alle längst verfilmt. Sonst nichts.
Ein paar Notizen, angefangene Vierzeiler, Pläne für nie geschriebene Szenarien.
Natürlich hieß es, schuld an allem sei Viktoria. Er war ein Genie, sie dagegen nur eine hübsche, banale Spießerin. Sie habe
ihn nie verstanden. Und die Zeit sei schuld, die Stagnation, die einem Genie die Luft zum Atmen nehme.
Bei der Beerdigung hielt Mamas Freund Wolodja Boldin Nikas Schultern fest umfaßt.
Noch lange sah Nika im Traum die nackten Beine hoch über dem Boden, das Gesicht, das wirkte wie ein einziger aufgeblasener
blauer Fleck, und die hervorquellenden toten Augen. Die Erinnerung an den Vater existierte unabhängig von diesem entsetzlichen
Bild. Der Vater blickte von mehreren Fotos, die gerahmt und an die Wand gehängt worden waren.
Der vierzigste Tag nach Jelagins Tod fiel mit seinem Geburtstag zusammen. Die Wohnung war gerammelt voll. In der Küche saß
Großmutter Serafima, Papas Mutter, streng, jugendlich, mit einem harten, klugen Gesicht. Nika sah sie selten und fürchtete
sie ein wenig. Sie wagte nicht, sie Großmutter zu nennen, sondern sagte genau wie Mama immer Serafima Petrowna.
Nach Jelagins Tod machte lange die Legende die Runde, seine Mutter habe die tragische Nachricht so kommentiert: »Das ist ganz
seine Art. Das war zu erwarten.«
»Wo ist der Schaumlöffel? Mach noch ein Glas Mayonnaise auf«, sagte sie zu Nika, die ihr in der Küche half. »Wie hältst du
denn den Büchsenöffner? Schon gut, bring die Schüssel hier auf den Tisch. Vorsichtig.«
Mama lief mit einer Zigarette im Mund zwischen den Gästen umher, als sei sie ebenfalls Gast und wisse in derfremden Wohnung nicht, wohin mit sich. Gierig nahm sie Beileidsbekundungen entgegen, reichte ihre Hand zum Kuß, schluchzte
hin und wieder, um dann plötzlich völlig unangebracht mit weit zurückgeworfenem Kopf lauthals loszulachen. Das Lachen ging
nahtlos in Tränen und hysterisches Weinen über.
Gegen Mitternacht, als nur noch die engsten Freunde und Verwandten da waren und wieder mal jemand »Künstlertragödie« sagte,
ertönte plötzlich Mamas hohe, weinerliche Stimme: »Eine Tragödie? Wieso denn? Er hat niemanden geliebt außer sich selbst.
Er hat mehr getrunken und sich mit Weibern rumgetrieben als geschrieben. Es war ihm völlig egal, was mit dem Kind ist, wenn
es sieht … Die Kleine war allein zu Hause. Jetzt schreit sie im Schlaf. Sie hat einen Schaden für immer weg. Er hat unser
Leben ruiniert, ihrs und meins auch …«
Über Mamas Gesicht flossen Tränen. Der verschmierte grellrote Lippenstift auf ihrem Mund sah aus wie Blut.
Serafima Petrowna stand wortlos auf, griff sich im Flur ihren Pelzmantel und verließ türenknallend die Wohnung.
»Ist das etwa eine Mutter?« rief Viktoria ihr hinterher. »Das nennt sich Mutter?«
»Hör auf, Viktoria.« Onkel Wolodja Boldin wollte sie umarmen, doch sie riß sich los.
»Laßt mich in Ruhe! Ich weiß, ihr denkt alle, ich bin schuld an seinem Tod. Natürlich, ich war ja viel zu primitiv für ihn,
ich war seiner Genialität nicht gewachsen. Ich wollte eine normale Familie, ich wollte, daß mein Kind eine normale, gesunde
Kindheit erlebt …«
»Na ja, Sie sind auch nicht gerade ein Engel, Viktoria Nikolajewna«, sagte Papas letzte Freundin, Tante Natascha, in herrischem
Baß.
»Mit welchem Recht ist diese Frau hier?« schrie Mama.»Raus mit ihr! Wehe, sie wagt es, noch einmal die Schwelle meines Hauses zu überschreiten!«
»Wenn das so ist, dann muß auch Wladimir Leonidowitsch gehen«, erwiderte Natascha kaltblütig. »Sie sagen, das Mädchen sei
in der Nacht allein gewesen. Wo waren Sie denn, Viktoria Nikolajewna?«
»Das ist gemein«, kommentierte eine hohe Männerstimme laut.
»Ja, ich weiß, ich bin euch allen zuwider! Aber ihr sitzt hier bloß eine Weile rum, seufzt ein bißchen, schwafelt was von
Künstlertragödie, und dann geht ihr wieder, zu eurer Frau oder eurem Mann, zu euren Kindern, zu euren Angelegenheiten. Und
ich? Wer braucht mich denn noch? Mit fünfunddreißig
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