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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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häßlichsten Moskauer Außenbezirke. Ein Proletarierbezirk,
     fünfgeschossige Plattenbauten. Die Bewohner waren arm, tranken, ständig gab es Krach, Randale, Prügeleien, Messerstechereien,
     kleine Diebstähle.
    In den reichen Bezirken im Zentrum hatten die Diensthabenden auch selten mal eine ruhige Nacht, aber bei den vielen Banken,
     Casinos, Restaurants und rund um die Uhr geöffneten Handelszentren waren die Vorfälle von ganz anderem Kaliber: Mord an einem
     Bankier, einem Fernsehmoderator, einem Duma-Abgeordneten. Da gab es hinterher beim Bier mit Freunden was zu erzählen.
    Hier dagegen, am proletarischen Stadtrand, passierte nie etwas Interessantes. Alles war armselig, schmutzig, alltäglich. Ein
     Penner hat einem anderen den Schädel eingeschlagen, beide wälzen sich in ihrer Säuferkotze, und du mußt aufklären, wer, wen
     und warum. Auf die Frage: »Warum hast du ihn erschlagen?« sieht er dich mit trüben, leeren Augen an und murmelt, unterbrochen
     von betrunkenem Schluckauf: »Na, damit er die Schnauze hält, die Sau, echt mal.« Schönes Motiv.
    Oder ein Mann hat seiner Frau die gußeiserne Pfanne über den Schädel gehauen. Das ist in ihrem glücklichen Eheleben früher
     schon vorgekommen, aber diesmal kam sie ihm hinterher so blaß vor, als sie umfiel, und er meinte, nun habe er seine Schöne
     wohl umgebracht. Aus Trauer, aus Reue oder aus Angst vor der unvermeidlichen Strafe hat er an der Gasleitung unter der Decke
     einen Strick befestigt und sich aufgehängt. Ein paar Minuten später kommt seine Schöne wieder zu sich, sieht ihren Gatten
     in der Schlinge und leert, ohne lange zu überlegen, eine ganze Flasche Essigessenz in einem Zug. Romeo und Julia in Wychino.
    Alltagskriminalität eben. Öde, schmutzig und erbärmlich. Mit keinem hat man Mitleid, keiner interessiert sich dafür.
    Aber diese warme Mainacht verlief ruhig, Nur eine alte Oma kam ins Revier, setzte sich auf die Bank für die Festgenommenen
     und wollte nicht wieder gehen. Eigentlichhätte der Diensthabende sie wegjagen sollen, schlimmstenfalls ein Notteam von der Psychiatrie rufen. Die Oma war eindeutig
     verrückt: Grob angemaltes Gesicht, bunte Plastikperlenketten und Armbänder in zehn Reihen, am Saum des zerrissenen Rocks Fransen
     von einer alten Tischdecke, auf dem Kopf eine ganze Sammlung billiger Kinderhaarspangen – Blumen und Schleifchen.
    »Du solltest nach Hause gehen, Mütterchen«, sagte der Oberleutnant zum wiederholten Mal.
    »Ich bestehe darauf, daß sich der alleroberste Chef persönlich um meinen Fall kümmert«, sagte die Alte unerschütterlich und
     verstummte, starr vor sich hin blickend, die aufgedunsenen rauhen Hände mit dem abblätternden grellroten Nagellack auf dem
     Schoß gefaltet.
    »Welcher Chef?« Der Diensthabende seufzte. »Es ist fünf Uhr morgens. Geh nach Hause, geh schlafen, Mütterchen.«
    »Nein, ich warte.«
    Raïssa Michailowna Kudijarowa, geboren 1928, Rentnerin, wohnhaft in Moskau, Sredne-Sagorski-Gasse 40, Wohnung 65, registriert
     in der ambulanten Kreispsychiatrie, was in ihrem Ausweis vermerkt war, erklärte, am zehnten Mai diesen Jahres habe ihr Lebensgefährte
     Anton, geboren 1962, das Haus verlassen und sei bis jetzt nicht wiedergekommen.
    »Wie heißt denn dieser Anton mit Nachnamen?« hatte der Diensthabende gefragt, als er vor drei Stunden die Vermißtenanzeige
     auf den Tisch bekam.
    »Weiß ich nicht. Dafür sind Sie ja die Miliz, daß Sie seinen Nachnamen rausfinden.«
    »Vielleicht ist Ihr Lebensgefährte wegen persönlicher Angelegenheiten weggegangen.«
    »Ist er nicht. Wohin denn? Und persönliche Angelegenheiten hat er keine, nur unsere Liebe«, erklärte die Alte geduldig.
    Nein, er mußte die verrückte Oma so schnell wie möglich loswerden. Aber der Diensthabende spürte, daß er sie nicht so ohne
     weiteres rauswerfen konnte.
    »Wie lange kennen Sie ihn denn schon, Ihren« – der Diensthabende ächzte und verzog das Gesicht – »Lebensgefährten?«
    »Sieben Tage.«
    »Also erst eine Woche?«
    »Sie meinen, das sei zu kurz, um einen Menschen kennenzulernen?« Die Alte blinzelte. »Ich habe genügend Lebenserfahrung, aber
     Sie sind viel zu jung, mein Lieber, solche Dinge können Sie noch gar nicht beurteilen.«
    »Das tue ich auch gar nicht«, beruhigte sie der Diensthabende. »Wo und wie haben Sie sich kennengelernt?«
    »In der Apotheke. Er wollte seine Medikamente abholen, und das Rezept war irgendwie nicht in Ordnung. Aber er hat erklärt,
     daß er

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