Für Nikita
Klapperdürr, winzig klein, spitze Stupsnase, gewölbte Stirn,
schütterer gelber Haarschopf – das alles hatte etwas Häßliches, Verwahrlostes, wirkte aber zugleich auch irgendwie kindlich,
rührend.
Sie wirkte, als habe sich jemand einen bösen Scherz erlaubt und das halbwüchsige Mädchen sei eines Morgens als alte Frau aufgewacht.
So ging sie nun durchs Leben – ein gealtertes Kind, noch immer in zerrissenen Teenagerjeans, löchrigen Turnschuhen und ausgebleichtem
Pullover mit Flicken auf den Ellbogen. Noch ehe das Kindlich-Eckige sich verwachsen hatte, zu rundlichen weiblichen Formen
ausreifen konnte, war bereits alles verwelkt, die Zähne ausgefallen, das Haar schütter geworden, um die naiven blauen Augen
hatten sich tiefe, grobe Falten gelegt. Sie hatte keine Zeit gehabt zum Erwachsenwerden. Und nicht die Kraft, auf Alkohol,
Drogen und zufällige Männerbekanntschaften zu verzichten. Sie mochte keine Zeit vergeuden mit gesundem Schlaf, war zu faul
gewesen, sich die Haare zu waschen oder sich wenigstens nach einer fröhlichen Nacht die Zähne zu putzen.
Die Stewardeß schloß, daß die beiden sich aus der Kindheit kannten. Beide stammten aus nicht sehr begüterten kultivierten
Familien, waren wahrscheinlich Moskauerinnen, ihrem Idiom nach zu urteilen. Sie gingen zusammen in eine Klasse. Die eine kriegte
immer Einsen, die andere immer Vieren. Beide waren hübsch und klug, jede hatte ihre Chance. Aber die Einsenschreiberin hatte
außer der Chance auch noch einen Kopf auf den Schultern. Sie hatte einen begehrten Studienplatz bekommen, einen vernünftigen,
anständigen Mann geheiratet, studiert, gearbeitet und sichkeinen Augenblick gehenlassen. Strengste Diät, jeden Morgen Gymnastik, Cremes, Masken, Vitamine.
Während des Starts saß die Stewardeß in der Nähe der beiden und konnte hören, worüber sie sich unterhielten.
»Sag mal, wo hast du eigentlich diesen Schwulen mit dem Saporoshez aufgegabelt?« fragte die blaue Dame.
»Wie kommst du darauf, daß er schwul ist?« Die Pennerin kicherte.
»Er war geschminkt.«
»Ach was? Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Du bist mir eine schöne Malerin. Vielleicht war der Penner mit dem Muttermal auch bloß geschminkt?«
»Hör auf! Der Penner war echt, genauso wie das Muttermal. Und der Typ mit dem Saporoshez – wozu sollte ich mir den genauer
ansehen?«
»Wo hast du ihn denn nun aufgegabelt?«
»Wir hatten doch besprochen, daß ich ein Taxi bestellen soll. Na ja, da hab ich die Taxis vorm Hotel abgeklappert und jeden
gefragt, was eine Tour vom Konzertsaal zum Flughafen kostet. Die haben alle Unsummen verlangt, darauf wollte ich mich schon
aus Prinzip nicht einlassen. Bloß der mit dem Saporoshez, der war billig.«
Zehntes Kapitel
Nika war siebenunddreißig, sah aber zehn Jahre jünger aus. Straff, schlank, leicht, keine einzige Falte, reine, glatte Haut.
Ziemlich dichte samtschwarze Augenbrauen, die ohne Tusche auskamen und einen reizvollen Kontrast bildeten zu ihrem hellen
haselnußbraunen Haar und den hellbraunen Augen, deren Farbe sich je nach Beleuchtung änderte. Im Halbdunkel schienen sie fast
schwarz, im hellen Sonnenlichtwurden sie durchsichtig wie Honig. Sie lächelte selten, ihr Gesicht schien zu streng für eine junge Frau, bei der alles in
Ordnung war. Doch ihre Augen hatten von Geburt an traurig, furchtlos und wissend gewirkt.
»Dieses Kind hat unmögliche Augen«, hatte Sergej Jelagin gesagt, als er seine gerade eine Woche alte Tochter zum erstenmal
sah. Er empfand eine gewisse Scheu vor Säuglingen und wußte nicht, wie er sie anfassen sollte. Das Mädchen kam ihm so zerbrechlich
und hilflos vor, und seine eigenen Hände so grob und ungeschickt, daß er das Kind die erste Zeit nur anschaute. Erst nach
einem Monat entschloß er sich, seine Tochter auf den Arm zu nehmen. Auf Bitte eines Journalisten. Das sei doch so rührend
– der berühmte Dichter und Filmautor und seine Familie: Seine Frau, die junge, wunderschöne Filmschauspielerin Viktoria Rogowa,
und das winzige kleine Mädchen mit den riesigen, unmöglichen Augen.
Auf dem Schwarzweißfoto zeigt Viktoria Rogowa ihr berühmtes geheimnisvolles Lächeln. Sergej Jelagin hat den Blick in die Ferne
gerichtet und hält das Kind ungeschickt auf ausgestreckten Armen, als wolle er es sich vom Leibe halten. Die winzige Nika
blickt direkt in die Kamera. Später sagten viele, die das Foto in der Zeitschrift sahen: Derart riesige und
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