Für Nikita
traurige Augen
hat eigentlich kein Baby.
Weil der Vater sie so ungeschickt und unbequem hielt, fing Nika an zu weinen.
»Fertig?« fragte der Dichter und Filmautor. »Kann ich sie wieder hinlegen?«
Er gab das Kind Viktoria, und die legte die kleine Nika ins Bett. Nika weinte heftiger, Viktoria sagte: »Sch-sch!«, dann gingen
alle in die Küche, Tee und Wein trinken, und redeten bis zum Morgengrauen über Filme und über Poesie.
Wenn das Mädchen zu laut weinte, sprang Sergej auf, griff sich an den Kopf und schrie: »Nun tu doch was, damit sie nicht
so schreit! So kann man ja nicht arbeiten!«
»Was kann ich denn tun? Was kann ich schon tun? Mir tun selber die Ohren weh!« schrie Viktoria zurück, schlug erbittert die
Kühlschranktür zu, rührte laut klappernd die klumpige Trockenmilch im Topf um, ging mit dem Fläschchen ins Zimmer und stopfte
Nika den Gummisauger in den Mund. Gierig trank Nika die künstliche Milch und schlief ein.
Es war das Jahr 1961. Jelagin war eines der lebenden Symbole jener kurzen, eigenartigen Zeit, die gemeinhin als Tauwetterperiode
bezeichnet wird. Jeder Gedichtzyklus von ihm war eine Sensation, die Filme nach seinen Drehbüchern liefen mit großem Erfolg.
Er hatte alle Allüren eines Genies: schwieriger Charakter, Zerstreutheit, Unberechenbarkeit, Anfälle schwerer Depression,
Schaffenskrisen, künstlerische Suche, chaotische Beziehungen, nächtliche Besäufnisse in den berühmten Moskauer Küchen.
Sprach jemand von Sergej Jelagin, dann fiel immer das schöne, geheimnisvolle Wort »Künstlertragödie«. Jelagin habe tragischerweise
die hübsche, begabte Schauspielerin Viktoria Rogowa geheiratet, die ihm natürlich nicht ebenbürtig sei. Es hieß, sie sei zu
primitiv für ihn.
Jelagin wurde in den populärsten Zeitschriften gedruckt. Auch das war irgendwie tragisch, denn ein wahres Genie wird verfolgt
und findet keine Anerkennung.
Die Seele des Genies irrte ruhelos umher, und mit ihr zusammen auch der kräftige, gierige Körper. Es blieb überhaupt keine
Zeit und Kraft für die Kunst. Begann eine neue Affäre, behinderte das die Arbeit. Ging eine zu Ende, war das doppelt hinderlich.
Die primitive Viktoria verstand ihn nicht und machte ihm Eifersuchtsszenen. Wie sollte er unter diesen Bedingungen kreativ
sein?
Allein der Anblick ihres puppenhaften Gesichtchens, der Klang ihrer hohen, ein wenig brüchigen Stimme störte Jelagins Konzentration.
Viktoria fuhr ziemlich häufig zu Dreharbeiten. Dann blieb Sergej allein und war so hungrig, daß er keine Zeile schreiben konnte.
Also kam irgendeine junge, hübsche Verehrerin und kochte ihm Essen. Er aß sich satt, wurde schläfrig, und die launische Intuition
war dahin.
Die Geburt des Kindes war für beide ein ärgerliches Mißverständnis. Nika kam niemandem gelegen. Viktorias Dreharbeiten platzten
– sie hatte von ihrer Schwangerschaft zu spät erfahren. Die Hauptrolle bekam eine andere. Sergej war mit der Tragödie seiner
suchenden Seele beschäftigt. Ein Kind? Wozu? Warum?
Es gab natürlich Großmütter und Großväter. Doch die waren noch jung und dynamisch und wollten nicht in Rente gehen, um sich
um die kleine Nika zu kümmern. Außerdem waren die familiären Beziehungen unmöglich. Jahrelang redete keiner mit keinem, alle
ergingen sich in gegenseitigen Beschuldigungen.
Mit einem Jahr wurde Nika in eine Wochenkrippe gegeben, später in den Wochenkindergarten. Den ganzen Sommer verbrachte sie
immer im Sommerhaus des Kindergartens.
»Alle auf die rechte Seite! Hände unter die Wange!«
Nika Jelagina konnte nur auf dem Bauch einschlafen.
»Jelagina! Du sollst auf die rechte Seite liegen!«
»Auf der Seite, nicht auf die«, murmelte Nika in ihr Kissen.
»Ruhe, du Rotznase! Leg dir jetzt hin, wie ich sag!«
Nika zog sich die Decke über den Kopf. Sie wurde ihr heruntergerissen, Nika mußte in der Ecke stehen. Damit sie lernte, wie
man mit Erwachsenen redet. Die kleine Klugscheißerin! Glotzt einen mit ihren großen Augen an. Eine wahre Strafe, dieses Kind!
»In Zweierreihen antreten! Nicht zurückbleiben!«
Nika Jelagina konnte nicht in Reih und Glied laufen. Sie blieb zurück oder lief voraus. Sie mochte die schweißige Hand eines
anderen Kindes nicht anfassen.
»Jelagina! Stell dich in die Reihe! Oder brauchst du eine Extraeinladung?«
Sie brauchte keine Extraeinladung. Sie wollte nur eines: Nicht angeschrien, in Ruhe gelassen werden.
»Im Chor, alle mitsingen! Alle
Weitere Kostenlose Bücher