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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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zusammen, drei, vier! Jelagina, warum singst du nicht mit?«
    Sie konnte nicht im Chor singen. Sie konnte es einfach nicht.
    Eines Tages kroch sie durch ein Loch im Zaun heimlich hinaus. Sie glaubte, irgendwo dahinten auf dem Gerstenfeld den hellen
     Kopf ihrer Mama gesehen zu haben. Barfuß rannte sie über den feuchten, stachligen Boden, schlug sich durch die riesigen Ähren
     wie durch einen Dschungel. Ja, natürlich, Mama war gekommen und wollte Nika nach Hause holen, nach Moskau.
    »Was soll das, Kleine?« fragte die hellhaarige fremde Frau erstaunt und schob das vierjährige Mädchen von sich.
    Viktoria drehte gerade mit einem berühmten Regisseur einen Film, der noch heute oft im Fernsehen läuft. Ein Liebesdrama unter
     jungen Geologen.
    Gedreht wurde im Ural, und natürlich konnte die Schauspielerin Rogowa, die die Hauptrolle spielte, keinesfalls ihre vierjährige
     Tochter im Kindergarten bei Moskau besuchen.
    Als Nika mit sieben zur Schule kam, war sie bereits so selbständig, daß sie die Eltern nicht mehr störte und keinerlei Aufmerksamkeit
     mehr verlangte. Sie konnte allein einkaufen und sich ein einfaches Essen kochen – Pelmeni oder Makkaroni. Später hegte sie
     für den Rest ihres Lebens eine heftige Abneigung gegen Teigwaren.
    Wenn ihre Eltern nicht miteinander verkracht waren, versammelten sie jeden Abend Gäste und saßen bis morgens in der Küche.
     Niemand schickte Nika ins Bett. Sie setzte sich in die Ecke und hörte den Erwachsenen zu. Papa trug Gedichte vor. Dann raunte
     man in der verrauchten, engen Küche geheimnisvoll: »Genial!« Es wurde Gitarre gespielt und gesungen. Nika schlief im Sitzen
     ein, was meist einer der Gäste eher bemerkte als die Eltern. Fremde trugen sie ins Bett, legten sie schlafen, strichen ihr
     übers Haar.
    Wenn Papa eine Schreibhemmung hatte, lag er tagelang in Unterhosen und Pantoffeln auf dem Sofa, neben sich einen Aschenbecher
     voller Zigarettenkippen. Dann durfte man ihn nicht ansprechen. Er brüllte sofort los, und man fühlte sich schuldig an seiner
     Schreibhemmung. In der Küche sammelten sich Batterien leerer Flaschen.
    Die Zeiten häuslichen Friedens wurden immer kürzer, die Kräche dauerten immer länger, manchmal eine Woche, manchmal einen
     Monat. Dann redeten die Eltern nicht miteinander und luden auch keine Gäste ein.
    Darüber vergingen die glücklichen sechziger Jahre, andere Zeiten brachen an, in die die früheren Symbole nicht mehr paßten.
     Sergej Jelagin bemerkte immer häufiger, daß sein Ruhm Risse bekam. Er geriet in Vergessenheit. Er fiel von einer Schaffenskrise
     nahtlos in die nächste. Er brachte keine Zeile mehr zustande, und schuld daran waren jeder und alles: seine Frau, seine Tochter,
     die Epoche, Regen und Sonne, Winter und Sommer.
    Viktoria Rogowa bekam immer weniger Rollen angeboten. Inzwischen war ein anderer Typ Frau gefragt.
    Im kalten, schneesturmreichen Januar 1975 erwachte Nika eines Nachts vom lauten Zuknallen der Wohnungstür. Das war nichts
     Besonderes. Die Eltern hatten sich mal wieder gekracht, und einer war gegangen. Nika rückte einenStuhl ans Fenster, um zu sehen, wer aus der Haustür kommen würde, Mama oder Papa. Vom dritten Stock konnte sie deutlich erkennen,
     wie Mama im offenen Mantel, ohne Mütze auf dem Kopf, das Haus verließ und in den weißen Moskwitsch ihres neuen Freundes, Onkel
     Wolodja Boldins, stieg. Der Moskwitsch fuhr los. Nika schlüpfte wieder ins Bett. Eigentlich war sie an die Kräche ihrer Eltern
     gewöhnt, aber sie mußte trotzdem weinen. Irgendwann schlief sie ein, das Gesicht im tränennassen Kissen vergraben. Im Schlaf
     vernahm sie ein eigenartiges Poltern.
    Um sieben klingelte der Wecker. Nika öffnete die Augen, sie mußte aufstehen und zur Schule gehen. Auf Zehenspitzen, um Papa
     nicht zu wecken, verließ sie ihr Zimmer, schlüpfte ins Bad, wusch sich, putzte sich die Zähne. Die Tür zum Zimmer der Eltern
     war halb offen. Drinnen brannte Licht, die Schreibtischlampe. Arbeitet Papa etwa? dachte Nika erstaunt und blickte ins Zimmer.
    Auf dem Fußboden lagen ein umgekippter Hocker und gelbe, weißgesprenkelte Splitter von der Deckenlampe. Ziemlich hoch überm
     Boden entdeckte Nika nackte Beine. Muskulöse, behaarte Beine. Schwarze Satinunterhosen. Ein weißes Unterhemd. Eine große blaue
     Kugel, so groß wie ein Kopf, mit kugelrunden Augen darin. Die Augen sahen Nika an. Ein aufgedunsenes Gesicht, eine heraushängende
     Zunge.
    Minutenlang stand Nika da wie gelähmt.

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