Für Nikita
Leben nicht, und Sina Resnikowa war genau das geworden, was sie wollte.
Nika und Sina waren seit der ersten Klasse befreundet. Aber eines Tages spürten sie beide, daß sie keine gemeinsamen Themen
mehr hatten. Nika tat es weh, mit anzusehen, wie ihre liebste Schulfreundin nicht nur ihr Talent im Feuer nächtlicher Bohemetreffen
verbrannte, in Portwein und Wodka ersäufte, sondern auch ihre Jugend, ihre Gesundheit und ihren Charme. Bald fand sich ein
formaler Anlaß, die Beziehungen abzubrechen.
Sina bat Nika, ihr dreitausend Rubel zu leihen. Nika wußte genau, daß sie die nicht zurückzahlen würde, gab sie ihr aber trotzdem.
Ihr war klar, daß Sina sich deshalb genieren und sich nicht mehr blicken lassen würde. Sina spürte das ebenfalls, bat Nika
aber dennoch um das Geld. Sie hätte sich auch mit einer geringeren Summe bescheiden können, wie schon so oft. Nika kaufte
einfach für zwei-, dreihundert Rubel ein Bild von Sina, wenn sie sah, daß es der Freundin schlecht ging, daß sie zum Beispiel
keine Winterstiefel hatte oder ihr Kühlschrank gähnend leer war. Allerdings wurden die Stiefel nie gekauft, und der Kühlschrank
blieb weiterhin leer.
Als Nika Sina die dreitausend gab, wußte sie, daß sie damit ihre einzige Freundin aus ihrem Leben strich. So kam es auch.
Sina wohnte am Stadtrand, ohne Telefon – ihre Verbindung war immer einseitig gewesen. Nun rief Sina nicht mehr an. Nika hätte
sie über deren Eltern ausfindig machen können, ließ es aber bleiben, aus Angst vor dummen, hastigen Entschuldigungen, kindischen
Schwindeleien und der unvermeidlichen beiderseitigen Spannung.
»Leihe einem engen Freund nie Geld, wenn du nicht sicher bist, daß er es zurückzahlt«, hatte Nikas lebenserfahrene Großmutter
sie gelehrt, »sonst siehst du weder das Geld noch deinen Freund wieder. Du würdest ihm die Schulden natürlich verzeihen, aber
er könnte dir nicht mehr in die Augen sehen. Kein Mensch verzeiht demjenigen, in dessen Schuld er steht.«
Die Lautsprecherstimme teilte mit, daß die Maschine zur Landung ansetzte, und Nika zuckte heftig zusammen, als erwache sie
aus einer tiefen Narkose.
Die Flucht von der Amtseinführung, der Flug nach Moskau, früher als geplant – das alles war lediglich eine tiefe Narkose.
Nikita war tot, und Nika konnte nicht einfach weiterleben, als sei nichts geschehen.
Nika glaubte keinen Augenblick daran, daß ihr Mann irgendwie mit Nikitas Tod zu tun haben könnte. Sie hatte nicht vor, etwas
herauszufinden und aufzuklären. Sie wollte nur eine Weile allein sein. In Moskau, in der leeren Wohnung, ohne fremde Augen
und Ohren, könnte sie ihren verdammten, unerträglichen Schmerz ausweinen. Dann würde sie weitersehen.
Sie wandte sich um. Aus dem Halbdunkel blickte sie ein furchtbar magerer Mann um die fünfzig an. Sein Kopf war vollkommen
kahl. In dem Alter womöglich die Folge einerChemo- oder Strahlentherapie. Krebs, dachte Nika mechanisch, der macht es wohl nicht mehr lange. Der Kahlköpfige schaute weg.
Seine Bewegungen offenbarten eine nervöse Hast, als habe er es sehr eilig, selbst hier im Flugzeug. Plötzlich hatte sie das
Gefühl, dieses Profil schon einmal gesehen zu haben. Jegorow schloß die Augen und lehnte sich zurück in seinen Sitz. Er mußte
unbedingt wenigstens ein paar Minuten entspannen, sonst ging seine Kraft zu Ende.
Vor dem Abflug hatte er sich auf der schmutzigen Flughafentoilette gewaschen. Ein rotznasiger Bengel hatte spöttisch grinsend
zugesehen, wie der ältere Mann sich die Schminke vom Gesicht wusch. Gut, daß diesmal Schminke gereicht hatte, daß er nicht
noch stinkende Pennerkleider hatte anziehen müssen. Aber der Geruch war wichtig – ein Penner durfte nicht nach Seife riechen.
Wo habe ich das bloß gelesen? Ach ja, natürlich, bei unserem gemeinsamen Bekannten Nikita Rakitin, respektive dem berühmten
Schriftsteller Viktor Godunow. In einem seiner Bücher durchschaut die Heldin die Maskerade wegen des Geruchs. Und Sie sind
keineswegs dümmer, Veronika Sergejewna. Gut, daß ich einem Bettler für eine Flasche Wodka die stinkende Wattejacke abgekauft
hatte. Den Trick mit den festgeschnallten Beinen haben Sie ja auch bemerkt. In Zukunft werde ich vorsichtiger sein.
Die Nacht in Moskau war klar, warm und erstaunlich ruhig. Solche paradiesischen Nächte konnte der Diensthabende des Milizreviers
an den Fingern abzählen. Das Revier befand sich in Wychino, einem der
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