Für Nikita
Das ist noch nie vorgekommen.
Natürlich war es unschön von ihr, einfach von der Amtseinführung zu verschwinden. Aber irgendwie auch verständlich. Erstens
war sie erschöpft, mit den Nerven am Ende, und zweitens ziemlich erschüttert über Rakitins Tod. So ungern er sich das auch
eingestand, doch so war es nun mal.
Eine andere an ihrer Stelle hätte sich an der Schulter ihres liebenden Gatten ausgeweint und wieder beruhigt. Das konnte Nika
nicht. Mit Gefühlsäußerungen war sie sehr eigen. Außenstehende hielten sie für einen kühlen Verstandesmenschen. Sie genierte
sich, auch nur einen Augenblick einem anderen zur Last zu fallen, jemanden mit ihren Problemen zu behelligen.
Das war ihrer verrückten Mama zu verdanken. Nika war eine ideale Partnerin zum Zusammenleben geworden. Sie war überzeugt,
daß ihr niemand etwas schuldig sei, und deshalb dankbar für die einfachsten Zeichen von Fürsorge und Aufmerksamkeit. Aber
das mußte man erst einmal erkennen. Russow hatte das erkannt, er war ein Menschenkenner.
Niemand, nicht einmal Rakitin, ahnte, daß man ihr nur über den Kopf streichen mußte, und schon fiel die Eiskruste von ihr
ab. Schon damals, als sie noch jung waren, hattediese eigenartige Kombination von äußerlicher eisiger Selbstbeherrschung und innerer zärtlicher, leidenschaftlicher Hitze
ihn verrückt gemacht, und so war es noch heute.
Nika besaß alles – Stärke und Schwäche, unbeschwerte, umwerfende Weiblichkeit und einen harten, männlichen Intellekt. Als
er das zarte, schlanke Mädchen mit den erwachsenen Augen zum erstenmal sah, schien sie unerreichbar für ihn, den Provinztolpatsch.
In ihm gab es einen Knacks – plötzlich war der Mechanismus des uralten Jagdinstinkts eingeschaltet.
Sie war achtzehn, er zweiundzwanzig. Im gemütlichen abendlichen Eßzimmer der Rakitins, in dem wie stets mindestens ein Dutzend
Gäste versammelt waren, warf er immer wieder verstohlene Blicke auf den langen, schlanken Hals, das hochmütig gereckte Kinn,
die hohe, blasse Stirn und das glatte, straff nach hinten gekämmte und zu einem dicken kurzen Zopf geflochtene mittelblonde
Haar.
Dieses Mädchen, verkündete er sich selbst, wird meine Frau. Er behielt recht. Sie wurde seine Frau. Allerdings nicht gleich,
sondern erst nach neun langen Jahren. Aber er konnte warten und hartnäckig sein, um sein Ziel zu erreichen. Und vor allem
– er irrte sich nie. Niemals.
Grischa Russow wußte, daß der Sohn des berühmten Pianisten Nika Jelagina seit seinem sechzehnten Lebensjahr liebte, er hatte
gehört, daß sie angeblich sogar schon kirchlich getraut waren, was Nikitas religiöse Oma organisiert hatte, und daß niemand
sich die beiden getrennt vorstellen konnte. Doch Russow, der schweigsame, ein wenig komplexbeladene Bursche aus Sibirien,
ganz zufällig in das gastfreundliche Haus der Rakitins geraten, sah sie bereits getrennt, die beiden zärtlichen Turteltäubchen
Nika und Nikita. So klar und deutlich, daß er die Augen zukniff,heftig schluckte und sich die Lippen leckte. Eine Gewohnheit aus seiner Kindheit: Speichel schlucken und sich die Lippen lecken.
Sein Verhältnis zum Leben war von krampfhafter kulinarischer Genußsucht bestimmt.
Der künftige Gouverneur bemühte sich zunächst eifrig um Sina Resnikowa. Sie war Nikas beste Freundin und wohnte seit einem
heftigen Konflikt mit ihren Eltern bei Nika.
Nika und Nikita liefen langsam den leeren Gogol-Boulevard entlang und blieben zurück. Sina, die es immer eilig hatte, stürmte
voran. Der Wind brauste ihr in den Ohren und ließ ihr helles Haar, grellgelb wie Kükenfedern, flatternd auffliegen, so daß
es aussah, als sei ihr kleines, kindliches Gesicht von goldenen Strahlen umgeben.
Gleich am ersten Abend erfuhr Russow, daß Nika Jelagina seit ihrem sechzehnten Lebensjahr allein lebte. Sie war Vollwaise.
Eine schöne Zweizimmerwohnung im Zentrum von Moskau, zweites Studienjahr Medizin, nachts Hilfspflegerin in der Unfallklinik,
auf der Intensivstation. Sie mußte sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.
Als Russow nach Nikas Eltern fragte, verfinsterte sich die Miene des fröhlichen Plappermauls Sina.
»Reden wir nicht darüber, ja? Nika hat mich gebeten, mit Fremden nicht darüber zu reden.«
»Ja, klar.« Russow lächelte gutmütig. »Ich bin natürlich noch ein Fremder. Aber nicht mehr lange.« Seine kräftigen weißen
Zähne blitzten in der Dunkelheit auf. Er schluckte, leckte sich die Lippen
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