Für Nikita
Stummfilm.
Auch der Held des Ersten Weltkriegs, der Oberst des Medizinischen Dienstes, Vikenti Rakitin, ein strenges, aber gar nicht
furchteinflößendes Gespenst – er hatte aus Eifersucht seine Frau erstochen, genau an dem Tag, als in Sarajevo Erzherzog Ferdinand
getötet wurde. Der Krieg brach aus, der Eifersüchtige wurde begnadigt und ging an die Front. Sein Zwillingsbruder Iwan verlor
fast das gesamte Vermögen der Familie beim Roulette und erschoß sich. Die jüngere Schwester der Zwillinge, Valentina, eine
sagenhafte Schönheit, heiratete mit Vierzig einen dreißigjährigen reichen Schweizer, nachdem sie sich einen gefälschten Paß
gekauft hatte, um mit ihrem Mann gleichaltrig zu sein. Ihre Nachkommen besaßen ein enormes Vermögen und lebten in einem Schloß
bei Bern.
In Nika hatte die Oma eine dankbare Zuhörerin. Die Familie kannte alle diese Legenden längst auswendig, Nika dagegen hörte
atemlos zu. Für Oma Anja und Nikitas Eltern gehörte sie bald zur Familie, als Nikitas Braut. Nur die alte Kinderfrau Nadja
begegnete ihr mit Mißtrauen.
»Dieses Mädchen hat unmögliche Augen«, sagte sie. »Die Augen eines Erwachsenen, der verraten wurde und nun niemandem mehr
vertraut und nicht verzeihen kann.«
»Seit wann bist du denn Hellseherin, Nadja?« fragte Oma Anja ärgerlich. »Ja, das Mädchen hatte eine schreckliche Kindheit.
Besser gesagt, überhaupt keine. Ich habe ihren Vater gekannt und auch ihre Mutter gesehen. Beide keine schlechten Menschen,
begabt, aber solche Menschen dürften keine Kinder haben. Das Mädchen braucht dringend Liebe und Wärme, und sie ist dankbar
für jede Kleinigkeit, ein gemeinsames Teetrinken in der Familie ist für sie ein Fest.«
Oma Anja hatte recht. Noch nie und nirgendwo hatte Nika sich so wohl und geborgen gefühlt wie bei den Rakitins. Sie hatte
Freude an den normalsten Dingen. In der Familie herrschte ein ruhiger Ton, niemand hob je die Stimme. Vorm Schlafengehen wurde
sie von Oma Anja bekreuzigt und auf die Stirn geküßt. Nikitas Kindheit erschien ihr als unvorstellbares Paradies, auf das
sie, das in den Kindergarten abgeschobene Mädchen, das niemand brauchte, nun einen kurzen Blick werfen durfte.
Manchmal machte es ihr Angst, daß sie Nikita so sehr liebte und er sie ebenso. Vor dem Hintergrund des Alptraums zu Hause
kamen Liebe und Glück ihr beinahe blasphemisch vor. Zu tief saß das Schuldgefühl in ihrer Seele.
Als Kind war sie an allem schuld gewesen: an den Schaffenskrisen ihres Vaters, daran, daß es regnete und MamasFrisur verdarb, daran, daß ihre Schuhe zu klein geworden waren und das Geld für neue fehlte, daran, daß sie immer so düster
aussah und einen unmöglichen Gang hatte. Auch am Selbstmord des Vaters trug sie einen großen Teil Schuld – wie sollte ein
Genie arbeiten können in einem Haus, in dem ein kleines Kind rumrannte und lärmte?
Mit sechzehn verstand Nika, daß ihre ganze verhängnisvolle Schuld ein grausamer Mythos war. Aber nichts ist langlebiger und
einleuchtender als grausame Mythen.
Nika war sich klar darüber, daß ihre Mutter sich allmählich um den Verstand trank. Onkel Wolodja war immer seltener zu Hause,
seine Dienstreisen dauerten immer länger. Sie ahnte, daß er eine andere Frau hatte und nur aus Mitleid nicht endgültig wegging.
Einen Monat nach der Geschichte mit dem Strick riß Viktoria das Fenster auf, kletterte aufs Fensterbrett und erklärte: »Ich
will nicht mehr leben.«
Im Zimmer saßen Nika, Onkel Wolodja und Nikita. Viktoria schrie und tobte, wehrte sich aber nicht, als man sie herunterholte
und das Fenster schloß.
»Macht euch keine Sorgen um sie« – Nikita lachte bitter – , »wenn man das wirklich vorhat, wählt man einen günstigeren Moment.«
Dann kam wieder eine Szene mit Tabletten – diesmal lagen sie in der Toilette. Manchmal spielte Viktoria zur Abwechslung nicht
Selbstmord, sondern Herzanfall. Hinterher schämten sie sich vor den Ärzten, mußten sich entschuldigen und rechtfertigen.
Onkel Wolodja ließ einen Psychiater ins Haus kommen.
»Sie haben sie grenzenlos verzogen.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Egoismus und schlechter Charakter werden nur dann krankhaft,
wenn die Angehörigen das fördern. Ich vermute, sie hat jederzeit dankbare Zuschauer.«
»Vielleicht gibt es ja irgendwelche Medikamente?« fragte Nika zaghaft.
»Ignorieren Sie ihr Theater einfach. Was sie braucht, ist Strenge, nicht Mitleid. Sie haben sie verzogen.
Weitere Kostenlose Bücher