Für Nikita
Sie sind schuld.«
Daran also auch, dachte Nika wehmütig.
1977 beendete Nikita die Schule und begann ein Studium an der Lyrik-Sektion des Gorki-Literaturinstituts.
Ein Jahr später machte Nika ihr Abitur. Sie war gut in der Schule und konnte durchaus auf ein ausgezeichnetes Zeugnis hoffen.
Von den Prüfungen hing viel ab. Nika wollte ans Erste Medizinische Institut, und dort gab es eine harte Konkurrenz. Sie hatte
einen schweren Sommer vor sich – erst die Abiprüfungen, gleich danach die Aufnahmeprüfungen.
Zum Lernen ging Nika in die Bibliothek oder zu Nikita, aber es blieben ja noch die Abende und Nächte. Zu Hause hatte sie keine
Ruhe. Länger als eine Woche hielt es Viktoria nicht aus ohne Szenen. Die Selbstmordspektakel wurden zur Gewohnheit. Und alle
halbe Stunde griff sie sich ans Herz.
Nikita schlug Nika vor, zu ihnen zu ziehen.
»Ab und zu bei euch übernachten ist das eine, aber zu euch ziehen, das ist was anderes«, sträubte sich Nika.
»Früher oder später bleibt dir sowieso nichts anderes übrig.«
»Oma Anja wird es kaum gefallen, wenn ich einen ganzen Monat bei ihr im Zimmer schlafe.«
»Oma und Nadja bleiben den ganzen Sommer auf der Datscha. Und meine Eltern fahren in drei Tagen für einen Monat nach Bulgarien.«
»Und sie werden wissen, daß wir beide allein in der Wohnung sind?«
»Sie ahnen auch so, daß wir beide uns nicht nur küssen.«Nikita grinste. »Allerdings hat Oma Anja gesagt, wir müssen uns trauen lassen.«
»Wie?«
»Weißt du, für Oma sind Standesamt und sonstige sowjetische Ämter unwichtig. Für sie sind Leute verheiratet, wenn sie getraut
sind.«
Onkel Wolodja hatte nichts dagegen, daß Nika zu Nikita zog. Für die Prüfungszeit wollte er den Streß mit Viktoria allein auf
sich nehmen.
Der schwerste Sommer wurde für Nika der allerglücklichste. Diese Kostprobe künftigen Ehelebens gefiel ihr durchaus. Sie bestand
die Aufnahmeprüfungen am Ersten Medizinischen Institut und wurde immatrikuliert.
Oma Anja kam für ein paar Tage von der Datscha in die Stadt, und sie fuhren zu dritt nach Otradnoje. Bereits zuvor hatte sie
eine antike Goldbrosche zum Juwelier gebracht und daraus zwei Eheringe mit einem kleinen rechteckigen Saphir anfertigen lassen.
Der Kirchenvorsteher war ein alter Bekannter von ihr und ließ sich deshalb überreden, ihre Personalien nicht im Kirchenbuch
festzuhalten. Über offiziell registrierte kirchliche Rituale wurde nämlich die Kreisverwaltung informiert, und diese setzte
ihrerseits die Komsomol- und Parteiorganisation der Arbeitsstelle oder Bildungseinrichtung der Betroffenen davon in Kenntnis.
Zuerst wurde Nika getauft. Taufpatin war Oma Anja. Dann wurden sie und Nikita in der menschenleeren Kirche hinter verschlossenen
Türen getraut.
Überglücklich, eine riesige Torte und eine Flasche Tokaier unterm Arm, fuhren sie zu Nika nach Hause.
Nika ging ins Zimmer. Ihre Mutter lag in einem alten Steppmorgenrock auf dem Bett, das Gesicht zur Wand gedreht.
»Mama«, sagte Nika, »steh auf, trink wenigstens mit uns Tee. Immerhin hab ich die Aufnahmeprüfungen bestanden.«
Mama rührte sich nicht. Nika setzte sich auf den Sofarand, berührte ihre Schulter. Intensiver Alkoholgeruch schlug ihr entgegen.
»Wieviel hat sie denn getrunken?« fragte sie Onkel Wolodja.
»Höchstens zweihundert Gramm.« Er zeigte auf eine Halbliterflasche Wodka, die noch mehr als halbvoll war.
»Schläft sie schon lange?«
»Rund drei Stunden. Ich hab nicht auf die Uhr gesehen.«
»Mama, wach auf!« Nika versuchte sie umzudrehen, erstarrte plötzlich und griff nach dem Arm ihrer Mutter – sie fühlte keinen
Puls.
»Den Notarzt, schnell!« rief sie. Onkel Wolodja stürzte zum Telefon. Nika drehte ihre Mutter auf den Rücken und machte eine
Mund-zu-Mund-Beatmung. Nikita drückte mit beiden Händen fest auf den Brustkorb. Sie hörten erst auf, als das Notarztteam hereinkam.
Der Arzt stellte den Tod fest.
»Sie ist schon mindestens eine Stunde tot. Vermutlich Alkoholvergiftung«, sagte er und verzog das Gesicht vor dem heftigen
Alkoholdunst.
»Sie hat nur ganz wenig getrunken«, sagte Onkel Wolodja langsam.
»Aber ihr hat’s wohl gereicht.« Der Arzt betrachtete die angebrochene Flasche, hielt sie gegen das Licht und kratzte am Etikett.
»Manchmal erwischt man eben minderwertigen Wodka. Das wird die Obduktion zeigen.«
Seine monotone Stimme klang ruhig und alltäglich. Nika stand reglos mitten im Zimmer und starrte vor sich
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