Für Nikita
und legte den Arm um Sinas Schultern. Sie hatte
spitze Knochen wie ein Küken.
»Wieso bist du da so sicher?«
»Ich bin ein prima Kerl, Sina. Das werdet ihr bald sehen.«
Russow schüttelte unwillig den Kopf, um die unangenehmen Erinnerungen zu verscheuchen, und zündete sich eineZigarette an. Er saß in seinem neuen Gouverneursbüro, an einem klaren Maimorgen 1998. Vor ihm auf dem Tisch lagen mehrere
druckfrische Morgenzeitungen. Mit farbigem Marker waren die Überschriften der Artikel hervorgehoben, auf die sein Pressesekretär
ihn besonders hinweisen wollte.
Auf einmal merkte er, daß er stumpfsinnig auf ein Foto in einer widerlichen, aber ungeheuer beliebten Moskauer Tageszeitung
starrte. Eine Großaufnahme von Nika vor dem Flughafengebäude. Doch nicht sie interessierte ihn jetzt, sondern die Frau neben
ihr. Sie war fast einen Kopf kleiner als Nika und mager wie ein verhungerter Teenager. Auf ihrem dünnen Kükenhals saß ein
zerzauster, hellhaariger Kopf. Sie hatte Nika untergehakt und entblößte beim Lächeln ihre Zahnlücken.
Er lehnte sich in den weichen Ledersessel zurück und saß ein paar Sekunden mit geschlossenen Augen da – sein Gesicht wirkte
erstarrt und tot, wie eine Wachsmaske. Eines der Telefone auf dem Tisch schrillte. Russow zuckte heftig zusammen, öffnete
die Augen, griff aber nicht nach dem Hörer. Er wußte, gleich würde seine Sekretärin im Nebenzimmer abnehmen.
»Natascha, ich bin in den nächsten zwanzig Minuten für niemanden zu sprechen«, sagte er schnell in die Gegensprechanlage.
»In Ordnung, Grigori Petrowitsch«, antwortete eine angenehme Frauenstimme. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
»Später.«
Er schaltete die Gegensprechanlage aus, stand abrupt auf, lief im Zimmer auf und ab, zündete sich eine Zigarette an und drückte
sie gleich wieder aus. Seine Hände zitterten leicht.
Viktoria mochte es, wenn um sie Leidenschaften tobten, wenn man Angst um sie hatte und sich Sorgen machte. Sie war eine echte,
geborene Schauspielerin, und ihre überschüssige Verstellungsenergie ergoß sie wie kochendes Wasser über ihre Angehörigen.
Auf das Elenium folgte eine Schlinge, aus zwei alten Strumpfhosen geknüpft und befestigt an dem Haken, an dem die Deckenlampe
hing. Die Schlinge und den darunter stehenden Hocker fand Nika vor, als sie aus der Schule kam. Mama stand im Abendkleid mit
der Schlinge um den Hals auf dem Hocker und sah Nika an. Die Lampe über ihr schwankte bedrohlich.
Ohne zu überlegen griff Nika zur Schere – die zum Glück auf Mamas Schminktisch lag – schnappte sich einen Stuhl, sprang darauf
und zerschnitt den Strick.
Viktoria, noch immer auf dem Hocker stehend, begann wie wild zu schluchzen. »Warum hast du das getan? Aus Angst, du würdest
dich schuldig fühlen? Das hast du nur deinetwegen getan. Alles machst du nur für dich.«
»Bitte komm da runter«, sagte Nika und verließ das Zimmer.
Danach ging es ihr sehr schlecht. Der Strick und der Hocker erinnerten sie an ein anderes Bild, das kein Theater gewesen war,
keine Farce.
»Als ob sie mich verhöhnen wollte«, sagte Nika am Abend zu Nikita, als sie zusammen auf einer Bank auf dem Hof saßen. »Ich
erinnere mich noch sehr gut an Papas Tod. Wozu diese Vorstellung?«
»Meinst du nicht, daß sie extra gewartet hat, bis du aus der Schule kommst, und sich den Strick erst um den Hals gelegt hat,
als sie dich hörte?«
»Ich bin sogar sicher, daß es so war.«
»Komm doch mit und übernachte bei uns«, schlug Nikitavor und küßte sie auf die Schläfe. »Ich will nicht, daß du zu diesem Horror zurückgehst. Dein Filmstar ist bestimmt schon
total betrunken.«
»Nein. Das ist mir peinlich. Außerdem muß ich morgen in die Schule.«
»Papa fährt dich hin.«
»Dann müßte er extra um sieben aufstehen, und überhaupt …«
»Was – überhaupt?«
In Wirklichkeit hätte sie nichts lieber getan, als mit zu ihm fahren. Aber sie tat es nicht. Sie wußte zwar, daß Mama ihre
Vorstellung ohne Zuschauer nicht wiederholen würde, doch sie hatte trotzdem Angst.
Sie wußte, Nikitas Eltern würden sich freuen, sie würde bei Oma Anja im Zimmer schlafen, und die Oma, eine richtige Märchenoma,
wie Nika sie sich als Kind immer gewünscht hatte, würde ihr wieder ein Kapitel aus ihrer Familiengeschichte erzählen. Anschließend
würden all die Leutnants und Hofdamen der letzten Zarin durch ihren Traum huschen, schnell und lautlos wie in einem
Weitere Kostenlose Bücher