Fuer Wunder ist es nie zu spaet
Und keinen Zucker! Was hast du gesagt?«
»Ich wollte mich entschuldigen.«
»Jetzt warte mal, ich verstehe dich hier drin so schlecht. Kannst du
später noch mal anrufen?«
»Nein, ich muss das jetzt sagen.«
»Okay. Warte kurz, dann gehe ich raus. Moment.«
Karin lässt sich auf den Linoleumfußboden sinken und lehnt sich an
die Wand. Sie hört Simone etwas sagen, eine Tür wird geöffnet, und dann
verschwindet alles Geklapper und Gerede, und es ist nur das Geräusch von
fahrenden und hupenden Autos zu hören.
Da ist Simones Stimme: »So, jetzt höre ich dich.«
»Simone, ich will mich entschuldigen.«
»Wofür denn?«
»Weil ich eine schlechte Mutter war.«
Simone schweigt. Autos, die fahren, Simone, die atmet.
»Weil ich dich so unter Druck gesetzt habe, obwohl du dein Bestes
gegeben hast. Weil ich zu viel gearbeitet und dir nicht zugehört habe und weil
ich heimlich getrunken und so viel gelogen habe.«
»Inwiefern hast du gelogen?«
»Bei allem, so kommt es mir zumindest vor. Bei allem. Ich war nicht
ich selbst, vielleicht habe ich auch nicht gewusst, wer ich bin. Ich habe immer
nur gewusst, was ich nicht wollte. Du weißt ja, dass mein Vater die ganze Zeit
getrunken hat. Zu Hause war es so schmutzig und das reinste Chaos. Das war das
Einzige, was ich wusste: Ich wollte es ordentlich und sauber haben. Und du
solltest sauber sein und gut in der Schule und . . .«
»Du hast nie gesagt, dass ich etwas gut mache. Zu Papa vielleicht
und zu anderen, aber zu mir hast du es nie gesagt, jedenfalls nie direkt.«
»Du bist gut, Simone. Du bist so gut, dass es mir fast Angst macht.«
»Und außerdem hast du gar nicht heimlich getrunken. Ich habe die
ganze Zeit gewusst, wie viel du trinkst. Somit war es für mich schon mal kein
Geheimnis, zumindest nicht in den letzten Jahren.«
Autsch, das tut weh. Am liebsten würde Karin auflegen. Aber sie
bleibt dran.
»In den letzten Tagen bin ich an einen Punkt geraten, an dem ich mir
geschworen habe, mit dem Lügen aufzuhören. Und mit dem Trinken auch. Und das
will ich dir jetzt sagen, du sollst wissen, dass du mich fragen kannst, was
immer du willst, und ich werde ehrlich antworten.«
»Was immer ich will?«
»Was immer du willst.«
»Liebst du mich eigentlich?«
Karin denkt eine Weile nach. Sie hört Simone am anderen Ende atmen.
Wie schwer es für sie gewesen sein muss, diese Frage zu stellen, und wie hart,
dass ihre Tochter sie stellen muss. Karin beißt sich ganz fest in die Hand, jetzt
raus mit den Worten, sag, wie es ist. Sag es ganz genau so, wie es ist. Die
Tränen schleichen sich aus den schon völlig verweinten Augen.
»Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt, Simone.«
56
M aja liegt auf dem hässlichen Plüschsofa
im Wartezimmer. Sie ist so hungrig, aber kann nichts essen, sie ist so müde,
aber kann nicht schlafen, sie ist unendlich besorgt und traurig, aber kann
nicht weinen. Sie liegt einfach nur mit einer ungelesenen Zeitschrift auf dem
Bauch da und glotzt an die hässliche Decke mit den surrenden Ventilatoren.
Manchmal wird die Tür mit einem saugenden Geräusch aufgeschoben,
Krankenschwestern kommen herein, Ärzte gehen, neue Angehörige setzen sich mit
leerem Blick und einer Illustrierten in der Hand hin.
In einer halben Stunde, hat der Arzt gesagt. In einer halben Stunde
kommen sie und sagen, wie es verlaufen ist. Sagen, ob er lebt. Wie zum Teufel
soll man eine halbe Stunde aushalten? Ehe man erfährt, wie das Leben in der
nächsten Zeit und für den Rest deines Daseins aussehen wird. Was, wenn er
stirbt? Was, wenn er an gebrochenem Herzen stirbt? Wie soll ich damit
weiterleben . . . Und was ist, wenn er überlebt? Wenn er wirklich überlebt? Das
wird auch nicht einfach, aber immerhin ist er dann noch da.
Maja dreht sich auf dem kleinen Sofa um, kehrt das Gesicht der
Rückenlehne zu, die Zeitschrift fällt zu Boden, die Ventilatoren surren, die
Tür geht auf und wieder zu, immer wieder. Man nennt das Zimmer den Warteraum
des Todes, und genau das ist es auch. Ein Zimmer, in dem man auf den Tod wartet
oder ihn gerade überwunden hat oder es noch nicht weiß.
Etwas weiter entfernt sitzen ein Junge und seine Mutter auf einem
Sofa. Der Junge weint, die Mutter versucht, ihn zu trösten, obwohl sie am
ganzen Leib zittert. Der Arzt kniet bei dem Kind und fragt, ob es nicht seinen
Vater noch einmal ansehen wolle, es werde nicht schrecklich sein, sondern sehr
schön, und der Papa sehe gar nicht schlimm aus. Die Mutter beißt die
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