Fuer Wunder ist es nie zu spaet
Tisch und verbirgt sein
Gesicht im Pulloverärmel. Josefin sagt nichts, sondern steht auf, zieht die
dritte Schublade unter der Spüle auf und holt eine Stoffserviette heraus, die
sie ihm reicht. Alex schnäuzt sich und drückt die Serviette an seine Augen.
Josefin geht zu ihm und setzt sich auf die Stuhlkante, und dann umarmt sie
Alex, der ihre ganze Kapuzenjacke nass heult.
Maja sitzt in dem gelben Wartezimmer für Angehörige.
Hässliche Plüschsofas, ein Kaffeeautomat, ein paar Stapel alter Zeitschriften
und eine Box mit kaputt gespieltem Spielzeug.
Herzinfarkt. Dringende Bypassoperation. Brustkorb aufsägen,
Blutgefäße von anderen Regionen des Körpers zum Herzen versetzen, während der
Operation wird das Herz abgeschaltet, mit kaltem Wasser runtergekühlt, damit es
ohne Blut überlebt . . . Pelle. Jetzt liegt er da drinnen mit aufgeschnittenem
Brustkorb. Und mit seinen Beinen, seinen armen, einsamen Beinen. Mein Gott.
Wenn er doch davon wusste? Wenn er wusste, dass sie sich nachts zu
Alex geschlichen hat? Vielleicht stand er ja draußen vor der Tür und hat ihren
lustvollen Schreien gelauscht. Wenn sie es sich recht überlegt, muss er es
eigentlich gewusst haben. Pelle war sonst immer die Freundlichkeit in Person,
aber seit jener Nacht im Labyrinth war alle Freundlichkeit verschwunden. Pelle
wusste es.
Maja denkt an Alex, diesen jungen, liebeshungrigen Mann. Oder besser
gesagt, diesen Jungen. Es ist, als hätte sie von einem unwiderstehlichen
Vanillekrapfen gegessen, ihn, ohne nachzudenken, genießerisch in sich hineingestopft.
Sie hat nicht an Alex gedacht und nicht an Pelle, sondern nur an sich selbst.
Und sie hat die ganze Zeit gewusst, dass sie nie mit Alex eine Beziehung
anfangen würde. Sie wollte einfach nur ihre Angst betäuben, durch Sex all das
Anstrengende loswerden. Es war einfach zu anstrengend gewesen mit Pelle und
Hjortholmen und dem Leben überhaupt. Sie hatte das Gefühl, erstickt zu werden.
Als dürfte sie nicht in ihrem eigenen Rhythmus atmen. Als hätte Pelle bestimmt,
wie sie atmen sollte. Dabei hatte er das gar nicht getan, Maja hatte ihm nicht
klargemacht, wie ihre Atemwege funktionierten und wie nicht.
Wenn Pelle überlebt, wenn er das hier packt, wenn sein Herz nicht
aufhört zu schlagen und wenn sie seinen Brustkorb wieder ordentlich
zusammennähen und er alles überlebt, dann wird Maja ihm sagen, was sie will.
Und wenn Pelle sie nicht auf ihrer Reise begleiten will, dann darf er zu Hause
bleiben. Aber für sie kommt das nicht infrage.
55
D anke.« Karin betrachtet Jens, der auf
dem Fußboden zwischen zwei großen Töpfen duftendem Lavendel liegt und schläft.
»Danke für all die Blumen und dass du das so schön hergerichtet hast.«
Jens schläft weiter, er hört Karin nicht, an der Wand tickt die Uhr,
und sie weiß nicht mehr, wie lange sie jetzt schon in diesem Blumenzimmer
sitzen. Ihr Vater liegt kalt im Bett. Karin betrachtet ihn ruhig. Es ist
vorbei. Sie empfindet es mit ihrem ganzen Körper, dass es jetzt in Ordnung ist.
Die wohlriechenden Maiglöckchen stehen auf dem Nachttisch, Karin knipst ein
paar Stängel ab und legt sie ihrem Vater auf die Brust. Dann zwängt sie sich
aus der Schwimmweste und legt sie über die Maiglöckchen.
»Vielleicht kannst du die dort, wo du hinkommst, gebrauchen, ich
will jedenfalls keine Schwimmweste mehr.«
Dann klettert sie über den schlafenden Jens und verlässt das Zimmer.
Sie atmet ein paarmal tief ein, wischt sich die feuchten Handflächen an der
Jogginghose ab und reibt sich die geschwollenen Augen. Sie holt das Handy raus
und wählt die Nummer ihrer Tochter.
Es klingelt.
»Simone.«
»Ich bin’s. Karin.«
»Hallo, wie läuft’s mit dem Schwimmkurs?«
»Öh, ganz gut. Obwohl, nein, es läuft ganz und gar nicht gut. Aber
man kann sagen, dass es irgendwie doch gut läuft.«
»Du klingst komisch. Ist irgendwas passiert?«
Es ist laut im Hintergrund, Karin kann Stimmen und Gläserklirren
hören. Anscheinend sitzt Simone in einem Café.
»Dein Großvater ist tot.«
»Aha. Oder . . . na ja, ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen
soll.«
Karin beißt sich auf die Lippe und schluckt.
»Du musst nichts sagen, ich wollte es dir einfach nur erzählen.«
»Bist du jetzt da, oder was?«
»Ja.«
»Warum das denn?«
»Weil . . . Das kann ich so auf die Schnelle nicht sagen. Aber ich
wollte mich . . . wollte mich entschuldigen.«
»Wofür denn? Warte kurz . . . Einen Milchkaffee bitte . . . nein,
viel Milch.
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