Fürchte dich nicht!
um Hilfe gebeten hatte? Hätte sie nicht ahnen können, dass er sich von ihrer Begegnung mehr erhoffte, als sie zu halten in der Lage war?
Leichter Nieselregen setzte ein, die Scheibenwischer verschmierten Dreck und Insektenleichen auf der Frontscheibe. Je länger sie schweigend im Auto saßen, desto unsinniger kam Viola ihr Unternehmen vor. Warum brachen sie mitten in der Nacht in ein Haus ein, in dem sie entweder nichts oder eine verweste Leiche finden würden? Was trieb sie an, mit der Polizei ein Katz-und-Maus-Spiel zu veranstalten, abgesehen von ihrem gekränkten Stolz, bei der Forschungsarbeit nicht mehr mitmachen zu dürfen? Vielleicht hatte Professor Blechschmidt ja wirklich nur das Wohlergehen einer Mitarbeiterin im Sinn gehabt. Vielleicht gab es gute Gründe, die manipulierten Viren zu verschweigen. Vielleicht waren sie nur zu blöd, das große, übergeordnete Ganze zu sehen.
Sie schaute zu Geis hinüber. Er umklammerte mit bleichen Knöcheln das Lenkrad.
»Alles in Ordnung?«
Er nickte. »Ja.«
»Du bist mir böse.«
»Nein.«
»Was dann?«
»Du hast deine Geheimnisse und ich habe meine. Okay?«
»Ich habe nachgedacht.«
»Und?«
»Wir sollten aufgeben, finde ich.«
Geis ging vom Gas, der Regen trommelte jetzt heftiger gegen die Scheiben.
»Ich kann dich in Münster absetzen.« Er drehte den Kopf ein Stück in ihre Richtung. »Aber ich werde in diese verdammte Hütte einsteigen. Wenn wir dort etwas finden, das deine Theorie bestätigt, können sie uns nicht als völlige Idioten abstempeln. Dann sind wir in der Lage, Bedingungen zu stellen: keine Strafverfahren, keine Verurteilung, möglicherweise sogar noch ein bisschen mehr. Wenn wir nichts finden …«, er hob die Schultern, »… haben wir Pech gehabt. Also, wofür entscheidest du dich?«
»Ich komme mit«, sagte Viola.
Etwa einen Kilometer vor Wesselings Kate bog Geis in einen unbefestigten Waldweg ein und stellte den Motor ab, sobald der Wagen von der Straße nicht mehr gesehen werden konnte. Der Regen hatte wieder nachgelassen, trotzdem versanken ihre Schuhe im klebrigen Morast.
»Was für ein Scheißwetter!«, knurrte Geis.
Ihren ursprünglichen Plan, sich Wesselings Haus durch den Wald zu nähern, mussten sie aufgeben, das Gestrüpp war zu dicht und der Boden zu matschig. Stattdessen nahmen sie den Weg über die asphaltierte Straße, mit dem Risiko, ins Scheinwerferlicht vorbeifahrender Autos zu geraten, falls es ihnen nicht gelang, rechtzeitig in Deckung zu gehen.
Viola hielt sich dicht hinter Geis. Der Wald machte ihr Angst, seine Schwärze wirkte wie eine Macht, die von ihr Besitz ergreifen wollte. Sie spürte, wie der Boden unter ihren Füßen schwankte, sich ihr Herzschlag beschleunigte und der Atem flacher wurde. Nur jetzt keine Panikattacke!
»Bleib mal stehen!«
»Was ist?« Er wandte sich um.
»Nichts.« Sie lehnte sich an ihn, hörte sein beruhigendes Schnaufen.
Ein Arm legte sich auf ihre Schultern. »Schon gut. Wir sind gleich da.«
In den beiden anderen Häusern brannte kein Licht. Sie verharrten regungslos, lauschten. Kein Fernseher, keine Musikanlage, nichts, was darauf schließen ließ, dass einer von Wesselings Nachbarn noch wach war.
»Packen wir es!«, sagte Geis.
Er wartete auf das nächste Auto. Als das Motorengeräusch am lautesten war, schlug er mit dem Ellenbogen ein Fenster auf der Rückseite der Kate ein.
»Zwei Minuten«, flüsterte Geis. Wieder beobachteten sie die anderen Häuser. Niemand schien das Klirren des Glases gehört zu haben.
Geis kletterte zuerst durch das Fenster. Viola sog die Luft ein. Sie roch abgestanden, aber neutral. Kein süßlicher Verwesungsgestank. Im Schein der Taschenlampe erkannte sie, dass sie in einer Küche standen. Eine Zeile mit alten, aber blank gewienerten Geräten, auf der anderen Seite eine gepolsterte Sitzecke mit Holztisch. Die Einrichtung wirkte ärmlich und zugleich penibel sauber, wie bei einem Junggesellen, der aus reiner Faulheit nichts schmutzig macht.
Sie gingen weiter und kamen in einen Flur, Holzdielen knarrten unter ihren Schritten, an den Wänden gerahmte Fotos, die in Afrika aufgenommen worden waren: lachende Einheimische vor Hütten oder Bäumen, mal mit, mal ohne einen großen hageren Weißen, dessen Vollbart und verfilzte Haarmähne farblich von Dunkelbraun zu Silbergrau changierten, je nach Alter des Fotos. Der Professor trug Zivil, abgesehen von einem Halskettchen mit Kreuz deutete nichts darauf hin, dass er in jener Zeit als Missionar
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