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Fürchte dich nicht!

Fürchte dich nicht!

Titel: Fürchte dich nicht! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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einen Grund.«
    »Natürlich gibt es einen Grund. Ich bin nicht mit Angst geboren worden. Ich hatte das, was man eine glückliche Kindheit nennt, ohne große physischen und psychischen Blessuren, nichts, was nicht nach ein paar Tagen verheilt gewesen wäre. Ich konnte studieren, was ich wollte, mich verwirklichen. Ich war eine selbstbewusste Frau, hatte den interessantesten Job der Welt.«
    »Und was passierte dann?«
    »Nennen wir es Vorfall . Vorfall ist ein schönes Wort, findest du nicht? Was sagt ihr bei der Polizei dazu?«
    »Wenn es sich um ein Verbrechen handelt oder ganz allgemein um eine kriminelle Handlung, nennen wir es Tathergang.«
    »Tathergang. Ja, Tathergang ist auch ein schönes Wort, so neutral, sachlich, emotionslos. Genau genommen war es eine Reihe von Tathergängen, die teilweise parallel verliefen, manchmal auch eskalierten.«
    »Wo war das?«
    » Wo ist eine unzulässige Frage, die ich nicht beantworte.«
    Geis nickte. Sie saßen auf der Terrasse und schauten auf die Bühne, in die sich die von mehreren Scheinwerfern angestrahlte Natur hinter dem Hotel verwandelt hatte: eine Rasenfläche unter hohen Bäumen mit Ziersträuchern und bunten Blumeninseln vor der wispernden und gelegentlich kreischenden Kulisse des nächtlich dunklen Waldes. So unheimlich und schön, dass man jeden Moment mit Rotkäppchen oder dem Wolf rechnete.
    Geis fror in seinem leichten Sakko, doch er wollte die dünne Hülle der Vertrautheit nicht zerstören, die sich um Viola und ihn gebildet hatte, nach Stunden des Schweigens, einem Abendessen im Hotelrestaurant, das wieder einmal sehr einseitig verlaufen war, und Violas Angebot, sich ihm zu öffnen, soweit sie es verkrafte und mit allen Einschränkungen, die er nicht infrage stellen dürfe.
    Nach und nach hatte sich die Terrasse geleert, außer ihnen hielt es nur noch ein junges Paar in der Kälte aus, das sich mit Blicken und Berührungen wärmte und die anderen sieben Milliarden Menschen des Planeten längst vergessen hatte. Während der letzten halben Stunde war auch der Kellner nicht mehr nach draußen gekommen, ein Schrank von einem Kerl mit alttestamentarischem Kopf und tellergroßen Händen, dessen Liebenswürdigkeit in krassem Kontrast zu seiner Waldschraterscheinung stand.
    Viola wickelte die Strickjacke, die sie aus dem münsterschen Hotel gerettet hatte, wie eine Bandage um ihre Hüfte. »Die Probleme begannen erst zwei Jahre später. Bis dahin hatte ich normal, fast normal gelebt, das Geschehene einfach verdrängt. Doch dann tauchte es mit Urgewalt wieder auf, wie eine Vulkaninsel, die die Meeresoberfläche durchbricht. Es war plötzlich da, im Supermarkt, in der U-Bahn, ich konnte mich nicht dagegen wehren. Die Erinnerungen überfielen mich in den unmöglichsten Situationen, mitten im Gespräch, beim Essen, auf der Toilette. Ich begann, mich zurückzuziehen, brach den Kontakt zu Freunden ab, blieb am liebsten in meiner Wohnung. Die Tage waren ganz erträglich, schlimmer wurde es in der Nacht, wenn die Schatten anfingen zu tanzen und mich anstarrten. An manchen Morgen fühlte ich mich so ausgekotzt und leer, dass ich kaum die Kraft fand, zur Arbeit zu gehen.«
    »Hast du keine Hilfe gesucht?«
    »Gleich nach dem Vorfall wurde ich psychologisch betreut. Ich bekam Tipps und Regeln für das Leben danach. Als es mir dann zwei Jahre später wirklich beschissen ging, bin ich von einem Therapeuten zum nächsten gerannt. Der erste hat mit mir Entspannungsübungen gemacht, der zweite hat mir Pillen verschrieben, der dritte hat mir gesagt, ich würde mich weigern, in die tieferen Schichten meines Ichs vorzudringen. Dabei wollte ich keine Wahrheiten über mich herausfinden. Ich wollte nur vergessen, verstehst du? Die schönsten Momente waren die, in denen ich nicht daran dachte. Manchmal eine ganze Stunde, seltener zwei. Im Nachhinein kamen sie mir vor wie Pausen in einem Horrorfilm.«
    »Kein Mensch hält das lange durch«, sagte Geis.
    »Ich hatte keine andere Wahl, oder?«
    Er griff nach ihrer Hand und schob den Ärmel der Strickjacke ein Stück nach oben. »Und was ist das?«
    Wütend riss Viola die Hand zurück und zog den Stoff über die Narben am Handgelenk. »Das geht dich nichts an.«
    »Du wolltest dich umbringen.«
    »Na und? Jeder hat ein Recht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ich hatte einfach genug. Beim zweiten Versuch hätte es fast geklappt. Es war nur eine Frage von Minuten.« Viola lächelte. »Aber es hat sich gelohnt.«
    »Gerettet zu

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